Frieder Harz

24. Dezember: Anbetung des Kindes – Weihnachtsbild von Hugo van der Goes

Etwa zwischen 1476 und 1478 hat Hugo van der Goes auf dem Höhepunkt seines Schaffens den nach seinem Stifter Tommaso Portinari (Leiter des Handelshauses der Medici in Brügge) benannten Altar geschaffen, eines der bedeutendsten Werke der altniederländischen Malerei. Das Bild zeigt den Mittelteil des Altars; auf den Seitenflügeln finden sich Personen der Stifterfamilie.

 

Ernst wirken die Beteiligten auf diesem Bild. Nirgendwo sehen wir ein lachendes Gesicht. Alle Blicke sind auf die Mitte des Bildes ausgerichtet. Auf dem kahlen, harten Boden liegt ungeschützt ein hilf-loses Kind – ein erbarmungswürdiger Zustand, wie eine achtlos hingelegte Puppe. Warum macht niemand Anstalten, das Kind aufzuheben und in den Arm zu nehmen?

Aber von dem Kind geht ein Strahlenkranz aus, der es zu etwas geheimnisvoll Besonderen macht. Das zeigt sich deutlich in den Gesichtern und Gesten der um diese Mitte herum gruppierten Perso-nen. Sie zeigen den Ausdruck staunender Bewunderung. Nicht Hilflosigkeit, sondern Faszination geht von dem Kind aus. Das drücken besonders gut die vielen ausgestreckten Hände aus. Sie wol-len nicht rettend nach dem Kind greifen. Es sind hinweisende Gesten, die Konzentration, Innehal-ten, Gebet und Verehrung zum Ausdruck bringen.

Eine theologische Deutung legt sich nahe: In diesem hilflosen Kind ist Gott selbst da. Die irritierende Schutzlosigkeit des kleinen Kindes ist zugleich die Größe Gottes, die Distanz fordert. Darauf ver-weist auch die einzelne Sandale links unten im Bild. Sie erinnert an die Szene des Mose am bren-nenden Dornbusch, wo Gott dem Mose gebietet: „Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe aus, denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!“ (2. Mose 3,5). Das ist der spannungsvolle Gegensatz von Gottes Abstand fordernden Größe und der Hilflosigkeit des kleinen Kindes in diesem Bild.


Der Liederdichter Gerhard Tersteegen (1731) hat es so ausgedrückt:

Sehet dies Wunder, wie tief sich der Höchste hier beuget;
sehet die Liebe, die endlich als Liebe sich zeiget!
Gott wird ein Kind, träget und hebet die Sünd;
alles anbetet und schweiget.
(Ev. Gesangbuch Nr.41)

Himmel und Erde göttliche und menschliche Sphäre durchdringen einander: Den Himmel repräsen-tieren die zahlreichen, übersichtlich gruppierten Engel, die teils noch schweben, teils festen Boden unter den Füßen haben. Aber in ihrer Körpergröße passen sie nicht zur irdischen Szene. Sie wirken wie hineinkopiert in sie. Als die Mittler zwischen Himmel und Erde weisen sie hin auf das Wunder dieses Kindes. Im Unterschied zur irdischen Szenerie haben sie gleichförmig-ununterscheidbare Gesichter.
Die Dimension der Menschen im Stall zeigt in der Mitte die in distanzbewusster Hingabe versunke-ne, in die blaue Gottesfarbe gekleidete Mutter. Links steht an der Säule der andächtig verharrende Josef. Dynamik geht am ehesten noch von den Hirten aus. Im rechten Eck ganz hinten sind sie noch im erregten Aufbruch unter dem Verkündigungsengel dargestellt. Am rechten Rand eilt ein Hirte mit erhobener Hand und dem Hut auf dem Kopf. Links neben ihm drängt ein anderer mit dem Hut andächtig schon im Arm, aber noch hastig weit nach vorne gereckt, um ja nichts zu verpassen. Bei den beiden vorderen kommt die Bewegung zur Ruhe. In ihren markanten, ausdrucksstarken Ge-sichtern geht sie in ein selig betrachtendes Staunen über, in die Ruhe, die von dem großen Ge-heimnis am Boden ausgeht.

Auffallend ist auch der in vielen anderen Weihnachtsbildern der niederländischen Tradition wie-derkehrende architektonische Rahmen, den eine Kirche und ein ruinenartig offener Stall bildet. Die Kirche lässt sich durch die im Portalgiebel angebrachte Harfe als das Haus Davids, das Symbol des alttestamentlichen Bundes identifizieren. In der vorgelagerten Ruine geschieht der Aufbruch zu Neuem. Das mag eine Interpretation des Prophetenspruchs sein: „Zur selben Zeit will ich die zerfal-lene Hütte Davids wieder aufrichten…“ (Amos 9,11); vielleicht ist es auch das Bekenntnis zu einer Kirche, die immer im Aufbau, Aufbruch und Bewegung sein soll. In der damaligen Zeit gingen in den Niederlanden und darüber hinaus von den „Brüdern vom gemeinsamen Leben“ kirchenkritische und innovative Impulse aus. Gegen eine äußerlich verweltlichte Kirche wurde die innere Tiefe ei-nes mit Hingabe überzeugenden Glaube praktiziert. Auch dieses Reformprogramm mag sich im andächtigen Schauen der dargestellten Personen wiederfinden.

Zur damaligen Bildersprache gehört auch die Sprache der Symbole. Die Lilien in den drei Farben sind Hinweis auf die Dreieinigkeit Gottes; die sieben Akeleiblüten verweisen auf die adventliche Weis-sagung im Jesajabuch (11,1): „Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn“. Die Veilchen am Boden sind Symbol der Demut; die roten Nelken verweisen auf Jesu Kreu-zestod. Das Ährenbündel steht für das ‚Brot des Lebens‘ im Hl. Abendmahl.

 

25. Dezember

 

 

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