Es geht um das Lernen, dass Zusammenleben mit anderen Regeln braucht - mit denen für Gerechtigkeit gesorgt und Bevorzugung einzelner vermieden wird. Kinder sollen lernen, sich in die Situationen anderer hineinzuversetzen. Das befähigt sie dazu, auch von ihnen her das Geschehen wahrzunehmen und entsprechend zu handeln.

1.1. Kindern fällt es oft schwer, die Rolle des "Kronprinzen" zu verlassen, in der sich alles um sie und ihre Bedürfnisse dreht, um auch die anderen und ihre Bedürfnisse und Rechte wahrzunehmen.

In der Josefsgeschichte (1. Mose 37) wird von einem jungen Mann erzählt, der sich daran gewöhnt hat, als Lieblingskind von seinem Vater verhätschelt zu werden. Er merkt nicht, dass seine Träume (in denen sich symbolisch die anderen vor ihm verneigen) für die anderen Stein des Anstoßes sind. Als er sich vor den Brüdern im Festgewand zeigt, in dem die Vorzugsbehandlung durch den Vater augenfällig wird, geraten die anderen in Wut und werfen ihn in einen leeren Brunnen. Dort hat er viel Zeit zum Nachdenken.

Ziel: Sich in der Rolle des "verhätschelten" Josef wiederfinden. Wahrnehmen, wie bestimmtes Verhalten andere provozieren kann. Entdecken, dass die harten Reaktionen anderer auch Anlass sein können, auf den eigenen Füßen gehen zu lernen. Auf diesem "Lernweg" weiß sich Josef von Gott begleitet.
 

1.2. Zuweilen manövrieren sich Kinder in Rollen hinein, oder sie werden in Rollen gedrängt, aus denen sie aus eigener Kraft nicht mehr herausfinden können. Jesusgeschichten erzählen davon, wie Menschen schwierige Rollen auch wieder verlassen können.

Zachäus (Lk 19) wollte reich werden, deswegen hat der den Beruf des Zöllners gewählt. Hier kann er uneingeschränkt Macht ausüben über andere. Er hat jetzt viel Geld, mit dem man angeblich alles erreichen kann. Aber er hat keine Freunde. Durch seine Geldgier ist er in die Rolle des Außenseiters geraten, aus der er nicht mehr herausfindet. Jesus hilft ihm, eine neue Beziehung zu seinen Mitmenschen aufzubauen.

Ziel: Wahrnehmen, wie Jesus den Zachäus aus seiner Rolle befreit, ihm Freundschaft anbietet, ihm den Weg zur Gemeinschaft mit den anderen eröffnet.
 

1.3. Beim ethischen Lernen geht es nicht darum, sich aus Angst vor Strafen streng an angeordnete Regeln bzw. Anweisungen zu halten, sondern es geht um die Fähigkeit und auch Freiheit, bei anderen wahrzunehmen, wo sie einen brauchen, daraus die entsprechenden Schlüsse zu ziehen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten auch zu helfen.

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25ff.) ist dafür eines der bekanntesten Beispiele: Der Samariter könnte ohne Weiteres dem Beispiel der anderen folgen und einfach wegsehen und vorbeigehen - aber er lässt sich von dem Wahrgenommenen anrühren, nimmt die Herausforderung an und nutzt seine Möglichkeiten zu helfen.

Ziel: Mitvollziehen, wie der Samariter dem Impuls widersteht, so wie die anderen zu handeln, wie beim Helfen eine Beziehung entsteht, die auch ihm gut tut, wie er Dankbarkeit spürt, die ihn selbst beflügelt.
 

1.4. Nicht immer sind Regeln und Rollenzuweisungen gerecht; sie führen zuweilen auch zur Benachteiligung einzelner. Regeln können auch unbarmherzig sein: wer nicht mithalten kann, bleibt zurück, kommt unter die Räder. 

In der Geschichte von der Heilung der verkrümmten Frau am Sabbat (Lukas 13) geht es auch um die gesellschaftlichen Regeln, die ihr Leben einengen. Sie ist zur Unauffälligkeit verurteilt, sie soll den Synagogengottesdienst nicht stören. Die Sabbatruhe darf nicht unterbrochen werden, als Frau hat sie im Zentralraum der Synagoge keinen Platz. Aber Jesus macht deutlich, dass ihr Leben, die Erfüllung ihrer tiefsten Wünsche wichtiger sind als die Einhaltung der festgelegten Ordnungen. Er ruft sie nach vorne, rückt sie in den Mittelpunkt des Geschehens, kümmert sich um sie, spricht sie bei ihrer Würde als "Tochter Abrahams" an - und macht so aufmerksam auf das, was ihr zusteht, vor Gott und genauso vor den Menschen. 

Ziel: Entdecken, wie Jesus im Auftrag Gottes auch Regeln durchbricht, um Menschen die Beachtung und Zuwendung zu schenken, die ihnen zusteht - als Geschöpfe und Ebenbilder Gottes.

1.5. Regeln und Gebote verlocken oft dazu, Erfahrungen mit ihren Grenzen zu machen, solche Grenzen auszuloten, Überschreitungen auszuprobieren. Kinder, die auf solche Weise an die Grenzen gehen, sind nicht "böse". Sie sollten aber auch die Erfahrung machen, dass an diesen Grenzen auch Gefahren lauern, dass mit den Regeln ein Freiraum eröffnet wird, der dem eigenen Verhalten Sicherheit gibt. Grundlegend sollte ihnen die Erfahrung werden, dass sie auch an den Grenzen ihrer Freiräume vom Vertrauen - dem ihrer Bezugspersonen und dem auf Gott - getragen sind.

In den neutestamentlichen Gleichnissen Jesu vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Sohn (Lukas 15) erproben die Hauptfiguren ihre Grenzen, begeben sich dadurch auch in Gefahr, riskieren viel, müssen mit der Erfahrung des Scheiterns zurecht kommen. Das Vertrauen des Hirten bzw. des barmherzigen Vaters hilft ihnen, wieder in das Leben mit seinem Freiraum für eigenes Handeln zurückzufinden und dadurch die gemachten Erfahrungen für das weitere Leben nutzbar zu machen.

Auch die Geschichte vom Zöllner Zachäus (Lukas 19) kann als solch eine gefährliche Grenzüberschreitung gedeutet werden: in seiner Geldgier hat er das friedliche Zusammenleben, die Zugehörigkeit zur Stadtgemeinschaft aufs Spiel gesetzt.

Es gibt auch Grenzüberschreitungen mit Folgen, die nicht wieder gut zu machen sind. Davon erzählt die Geschichte von Kain und Abel (1. Mose 4): Kain gerät in seiner Begegnung mit Abel in Zorn, steigert sich in seine Wut hinein - die Folgen sind entsetzlich, Kain wird zum Mörder. Das ist eine Geschichte, die eindringlich vor ganz bestimmten Grenzüberschreitungen warnt, nämlich wenn einen die Wut alle Sicherheitsvorkehrungen für sich und das Gegenüber außer Kraft setzen lässt. Das darf auf keinen Fall geschehen. Kain muss deshalb harte Folgen seiner Tat auf sich nehmen - aber er darf dennoch weiterleben, in der Beziehung zu Gott seinen weiteren Weg gehen.

Ziel: Erfahren, dass Grenzüberschreitungen zum Leben dazu gehören, dass mit ihnen wichtige Erfahrungen verbunden sind, oft aber auch solche, die auf schmerzliche Weise gewonnen wurden. Damit verbunden soll die Erfahrung sein, dass sich Menschen auch in solchen Situationen der Grenzüberschreitungen von anderen Menschen und von Gott begleitet wissen dürfen.

1.6. Kinder gehen oft sehr unduldsam mit anderen um, die Grenzen übertreten, Fehler gemacht, an anderen schuldig geworden sind. Andere werden verpetzt, an den Pranger gestellt, ausgegrenzt; Bestrafung wird gefordert.

Im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15) ist es da der ältere Bruder, der solche Unduldsamkeit zeigt. Er klagt das Unrecht ein, fordert vom Vater Gerechtigkeit. Der Vater sucht das Gespräch mit ihm und wirbt um eine Sichtweise, die dem Heimgekehrten liebevolle Aufnahme ermöglicht und ihm so eine neue Chance eröffnet.

Ziel: Anstöße aufnehmen, die neben den gültigen Kriterien des Rechtmäßigen, der Strafe und Vergeltung auch solche der Barmherzigkeit zum Zuge kommen lassen.

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