Johann Sebastian Bach schreibt sein Weihnachtsoratorium

 

Die nachfolgende Erzählung  ist ein erdachtes Gespräch Bachs mit seinem ältesten, damals schon 23-jährigen Sohn Wilhelm Friedemann. Die darin benannten Einzelinformationen sind nachgewiesen: An die Stelle der sonst üblichen Einzelkantaten, die im Gottesdienst erklangen, plante Bach für die Weihnachtszeit 1734/35 ein größeres Werk, ein Oratorium. Als Gesamtwerk wurde es zugleich in sechs Teilen für die Gottesdienste an den Sonn- und Festtagen zwischen 25. Dezember und 6. Januar konzipiert.

Die vertonte Weihnachtsgeschichte mit Rezitation des Evangeliums, Chören und Chorälen gab es schon vorher, etwa von Johann Schelle, einem seiner Vorvorgänger im Amt des Thomaskantors in Leipzig, oder noch früher von Heinrich Schütz in Dresden. Aber als viel ausgedehnteres Oratorium, also ganz im musikalischen Stil einer Barock-Oper war das etwas Neues, das über die Bedeutung einer Festkantate für den Gottesdienst hinauswies.
Bach hat sich in seiner Komposition eigener Vorlagen aus vorangegangenen weltlichen Kantaten bedient, das sog. Parodieverfahren angewendet. Wer die neuen Texte zu der schon vorhandenen Musik geschrieben hat, ist nicht sicher. Vermutet wird der Postschaffner und Gelegenheitsdichter Christian Friedrich Henrici, mit dem Bach viel zusammengearbeitet hat. Grund für das Parodieverfahren war wohl weniger Arbeitsersparnis, denn auch die Einpassung von Chören und Arien aus früheren Werken in den Gesamtzusammenhang des Neuen erforderte viel Detailarbeit. Es war eine bewusste Entscheidung Bachs, die viel mit seinem Verständnis der Geburt Jesu Christi zu tun hatte. Genau darum geht es in dem erzählten Gespräch zwischen Vater und Sohn.

 

Text der benannten Teile der ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums:

Eingangschor:
Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage.
Rühmet, was heute der Höchste getan.
Lasset das Zagen, verbannet die Klage.
Stimmet voll Jauchzen und Fröhlichkeit an!
                Dienet dem Höchsten mit herrlichen Chören.
                Lasst uns den Namen des Herrschers verehren.

 

Arie (Bass und Trompete):
Großer Herr, o starker König.
Liebster Heiland, o wie wenig
achtest du der Erden Pracht!
                Der die ganze Welt erhält,
                ihre Pracht und Zier erschaffen,
                muss in harten Krippen schlafen.

 

Die Länge der barocken Chöre und Arien ist für Kinder vielleicht noch ungewohnt. So empfiehlt es sich u.U., vom Eingangschor „Jauchzet, frohlocket“, der wie auch viele andere Teile nach dem Schema A-B-A aufgebaut ist, nur den zweiten A-Teil vorzuspielen, der genau eine Wiederholung des Anfangsteils ist, aber mit deutlichem Schluss endet. Nach dem Kennenlernen des Eingangschors kann sich auch die erste Evangelienrezitation anschließe, mit den bekannten Worten: „Es begab sich aber zu der Zeit…“ Das ‚Ehre sei Gott in der Höhe‘ ist nicht allzu lang und mündet in ein knappes, aber eingängiges Rezitativ und den Schlusschoral zur bekannten Melodie „Vom Himmel hoch“ ein. Ausführlicher sind dann die Arie „Großer Herr und starker König“ am Ende des ersten Teils samt Schlusschoral zur Melodie „Vom Himmel hoch“ und auch die „Hirtenmusik“ zum Beginn des zweiten Teils. Mit dem wiederholten angeleiteten Hören samt den Gesprächen dazu wächst dann auch die Bereitschaft der Kinder, immer mehr von den in der Erzählung vorgestellten und erwähnten Teilen aus Bachs berühmter Weihnachtsmusik zu hören.   

 

Erzählung

Gerade kommt Johann Sebastian Bach von einem großen Fest in Leipzig nach Hause, wo er mit seiner Familie wohnt. Es ist die Thomasschule für Chorsänger neben der Thomaskirche. Er steigt die Treppen hoch zu seiner Wohnung, kommt am Gang zu den Zimmern vorbei, in denen die Jungen wohnen, mit denen er jeden Tag den Chorgesang übt. Und so ist er schon wieder mittendrin in seinem Alltag als Musiklehrer und Chorleiter. Aber in Gedanken ist er noch bei dem Fest. Es war das Fest zu Ehren des sächsischen Kurfürsten, der genau an diesem Tag vor einigen Jahren auch zum König von Polen gekrönt worden war. Viele Leute haben auf den Straßen mitgefeiert, waren bei dem langen Fackelzug durch die Stadt mit dabei. Es gab auch festliche Musik, Melodien aus ihr summt Johann Sebastian noch vor sich hin. Er kennt sie sehr gut, denn er hat sie ja selbst komponiert und hat auch den Chor und das Orchester geleitet.

Da kommt Friedemann, sein ältester Sohn, ins Zimmer: „Eine wunderschöne Musik war das“, meint er. „Das haben viele gesagt, die ich getroffen habe. Und das ist ja jetzt schon die dritte Festmusik für die kurfürstlich-königliche Familie – im letzten Herbst für die Königin zu ihrem Geburtstag und auch für den Kronprinzen - und jetzt für das Thronjubiläum. Du wirst bestimmt noch ganz berühmt als königlicher Komponist“. Aber der Vater winkt ab: „Ich muss ab morgen wieder an die Aufgaben denken, die vor mir stehen. Heute ist der fünfte Oktober. In zwei Monaten muss die Weihnachtsmusik für dieses Jahr vorbereitet sein“. Er steht auf, geht ein paar Schritte hin und her und sagt dann: „In diesem Jahr habe ich an Weihnachten etwas ganz Besonderes vor!“ Friedemann wird neugierig, und der Vater erklärt ihm: „Ich will die ganze Weihnachtsgeschichte in einem großen Werk in Musik setzen, mit Chören, Instrumenten, Sologesängen. Es soll ein großes Musikstück zu den Weihnachtsgeschichten aus der Bibel werden - über zwei Stunden lang“.

„Wann soll dieses Oratorium erklingen?“ fragt Friedemann weiter. „Wird das ein Konzert in der Kirche werden?“ „Nein“, antwortet der Vater, „an jedem Sonn- und Feiertag zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar soll im Gottesdienst ein Teil davon zu hören sein“. Friedemann holt gleich den Kalender und meint: „Also am 1. Weihnachtstag geht es bestimmt um Maria und Josefs Weg nach Bethlehem und die Geburt des Jesuskindes. Am 2. Feiertag geht es dann um die Hirten auf dem Feld und die Botschaft der Engel, am 3.Feiertag um den Besuch der Hirten beim Jesuskind“. Der Vater nickt und fährt fort: „Dann kommt der Neujahrstag mit dem Fest der Namensgebung Jesu, denn die Taufe der Neugeborenen hat es damals ja noch nicht gegeben. Und am Sonntag danach und dem Epiphaniasfest, dem Tag der Heiligen drei Könige folgt dann die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland“.

Nach einer Pause meint Friedemann dann: „Da hast du dir aber viel vorgenommen. Meinst du, dass du das alles schaffst?“ Wieder nickt der Vater: „Ich habe mir schon viel dazu überlegt und auch schon die Idee für den Anfang. Jesus ist zwar ganz arm auf die Welt gekommen, in einem Stall neben Ochs und Esel. Aber für uns Christen ist er der wichtigste Mensch überhaupt. Er ist Gottes Geschenk für uns, und wir danken Gott dafür, singen und musizieren ihm zur Ehre. Das muss ein Jubel sein, eine Geburtstagsfestmusik, als ob ein Königskind geboren wurde“. „Ein Jubel mit Pauken und Trompeten“ redet Friedemann weiter, zögert dann einen Moment und sagt dann: „Du hast doch im letzten Jahr solch eine Jubelmusik geschrieben, die Musik zum Geburtstag unserer Kurfürstin und Königin. Genauso königlich müsste dann ja wohl auch der Anfang deiner neuen Weihnachtsmusik klingen“. Wieder nickt der Vater und meint dann: „Tönet ihr Pauken, erschallet, Trompeten – so fing die Musik zu Ehren der Königin an. Und genauso wird meine Weihnachtsmusik beginnen“.

„Aber“, wirft Friedemann jetzt ein, „der Jubel galt doch der Königin und nicht Gott. Kann man denn mit derselben Musik zu Ehre der Königin und auch zur Ehre Gottes singen? Muss die Musik für Gott nicht eine ganz andere sein als die Geburtstagsmusik für eine Königin?“ Der Vater antwortet: „Es kommt da doch vor allem auf die Worte an, die gesungen werden. Und die werden an Weihnachten ganz bestimmt andere sein als beim Königsgeburtstag. Der Chor wird singen, dass wir Gott, unseren allerhöchsten König und Herrscher ehren und Jesus, seinen Sohn“. Friedemann meint: „Kann man das wirklich so machen, dass die Töne der Instrumente, der Pauken, Trompeten, Geigen und Flöten dieselben bleiben und nur die Worte andere sind?“ Der Vater sagt: „Was heißt da ‚nur‘. Die Worte sind doch das Entscheidende. Sie tragen die Botschaft weiter. Der Geburtstag der Königin ist vorbei. Vielleicht wird ihre Geburtstagsmusik noch einmal oder auch ein paar Mal wiederholt, und das hören nur die Festgäste. Aber die Weihnachtsmusik kann jedes Jahr erklingen, immer wieder. Und alle sind eingeladen, sie zu hören. Die Freude und der Jubel dieser Musik gilt unserem Gott! Das ist der Unterschied.“

„Also gut“, sagt Friedemann. „Aber wenn die Leute diese festliche und prächtige Musik hören, denken sie dann auch daran, dass Jesus bettelarm auf die Welt gekommen ist?“ Der Vater antwortet: „Sie hören ja, wenn der Evangelist die Worte der Bibel singt: „und sie legten das Kind in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“. Aber Friedemann schüttelt den Kopf: „Irgendwie passt das nicht zusammen, der große Jubel mit großem Glanz und großer Pracht und das arme Jesuskind im Futtertrog“. Der Vater antwortet: Sollten wir deshalb Trauerlieder singen? Alles Jammern und Klagen soll sich in Freude über diese Geburt verwandeln. Genau das wird der Chor singen: „Lasst das Zagen, verbannt die Klage, stimmt voll Jauchzen und Fröhlichkeit an“.

Dann legt er Friedemann eine Hand auf die Schulter und sagt: „Zum Schluss des ersten Teils für den ersten Weihnachtstag singt eine kräftige tiefe Männerstimme ein Lied und wird festlich von einer Trompete begleitet. Sie singt: „Gott hat die Welt in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit erschaffen. Aber Jesus verzichtet darauf, Gottes Sohn in Macht und Herrlichkeit zu sein, sondern macht sich selbst klein und arm, um den Armen, Kranken und Bedürftigen ganz nahe zu sein. Jesus muss in einer harten Krippe schlafen. Beides, die Schöpferkraft Gottes in ihrer ganzen Pracht und Jesus in seiner Armut sind Gottes Geschenk für uns, und beides gehört zusammen“. Friedemann meint nachdenklich: „Am Palmsonntag in Jerusalem hat man Jesus auch wie einen richtigen König begrüßt, und er war doch ein ganz anderer König. Vielleicht wird das Besondere an Jesus ja wirklich besonders deutlich, wenn man ihn zuerst fast mit einem König aus unserem Land verwechseln könnte und dann erkennt, dass er ja ein ganz anderer König war“. Und dann fragt er seinen Vater und blinzelt dabei schelmisch: „Hast du dieses Lied vielleicht auch aus der Geburtstagsmusik für die Kurfürstin und Königin?“ Der Vater nickt und meint: „Ja, und den Sänger kann man ganz bestimmt genau verstehen, wenn er nicht die edlen Frauen am Hof in Dresden besingt, sondern Gott und Jesus, den Gott, der uns Jesus als seinen Sohn auf die Welt geschickt hat“.

„Aber wenn es im zweiten Teil für den zweiten Feiertag um die Hirten auf dem Feld und den Gesang der Engel geht, da passen die Festmusiken für die königliche Familie in Dresden doch wirklich nicht dazu“, meint Friedemann. Da muss eine Hirtenmusik erklingen, mit der die Zuhörer wie mitten unter den Hirten von Bethlehem auf dem Feld sind, und dann muss ein wunderbarer Engelschor das ‚Ehre sei Gott in der Höhe‘ singen. Und wenn die Hirten zur Krippe kommen, dann…“ Der Vater fällt ihm ins Wort: „dann finden sie Maria, Josef und das Kind, und Maria singt ihm ein Wiegenlied“. Friedemann blinzelt seinen Vater an und meint: „Da könnte ja sogar das Wiegenlied passen, das du im letzten Jahr in der Musik zum Geburtstag des Kronprinzen komponiert hast: ‚Schlafe mein Liebster, genieße die Ruhe‘ heißt es da doch. Wiegenlied ist Wiegenlied und Schlaf ist Schlaf. Da gibt es eigentlich keinen Unterschied zwischen einem Kronprinzen-Baby und dem Jesus-Baby. Oder vielleicht doch?“

Und dann fügt er noch an: „Ich bin ja gespannt, ob sich an Weihnachten, wenn in der Kirche deine Weihnachtsmusik erklingt,  überhaupt jemand an die Musik für die Königsfamilie im letzten Jahr erinnern kann“.     

In den folgenden Tagen sitzt Johann Sebastian Bach viel in seinem Arbeitszimmer und schreibt die vielen Noten für sein Weihnachtsoratorium. Und dann ist es soweit: Der erste Teil ist fertig. Er probt im großen Saal mit allen Sängern und Instrumentenspielern den Anfang. Friedemann hört zu und Mutter Anna Magdalena ist auch dabei. Die Pauke setzt mit fünf lauten Schlägen ein, die Flöten antworten, die Geigen- und Flötentöne sausen von den höchsten Höhen hinunter in die Tiefe, und gleichzeitig setzen die Trompeten hintereinander mit ihrem kräftigen Signal ein. Dann klingen alle Instrumente zusammen wie zu einem fröhlichen Tanz. Schließlich kommt auch der Chorgesang dazu und bekräftigt die Töne mit dem „Jauchzet, frohlocket! Auf, preiset die Tage!“.

Anna Magdalena flüsterst Friedemann zu: Die Paukentöne sind wie ein Ruf: „Achtung! Herhören! Wichtig! Die Flöten tuscheln noch ein bisschen und noch einmal und viel energischer sind die Pauken zu hören: „Achtung! Jetzt geschieht Wichtiges für uns alle!“ Sie sind wie ein Herold, der eine bedeutsame Botschaft ankündigt. Und dann fangen die Trompeten zu jubeln an, die Geigen- und Flötentöne fallen wie vom Himmel herab auf die Erde: Jesus ist auf die Welt gekommen. Alles klingt und singt zur Freude, und so ruft es uns auch der Chor zu: „Jauchzt und freut euch! Gott hat uns mit diesem Jesus ein riesengroßes Geschenk gemacht!“ Friedemann nickt: „So habe ich es auch gehört und verstanden“.

Anna Magdalena meint noch: „Als dein Vater vor einem Jahr die Geburtstagsmusik für die Kurfürstin und Königin geschrieben hat, da war er mit seinen Gedanken ganz bestimmt schon bei seiner Weihnachtsmusik. Als der das ‚Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten‘ für die Königin schrieb, da hat er bestimmt auch schon das ‚Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage‘ im Ohr gehabt. Das, was er damals für die Königin komponiert hat, das passt zu Weihnachten genauso gut, wenn nicht sogar noch viel besser“. Und Friedemann meint: „Wir können ihn nach der Probe ja gleich mal fragen, ob das so stimmt“.

 

Gesprächsimpulse

  • Wenn du den Anfang der Weihnachtsmusik von Bach hörst, erinnert dich da etwas an seine erste Komposition für die Kurfürstin: „Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten“?
  •  War es deiner Meinung nach richtig, dass Bach für den neuen Text zu seinem Weihnachtsoratorium die Musik für die Königsfamilie aus dem vorangegangenen Jahr verwendet hat? Was spricht dafür, was dagegen?
  •  Viele Jahre vorher (1714) hat Bach zum Palmsonntag eine Musik komponiert, in der der Chor am Anfang singt: „Himmelskönig, sei willkommen“. Kannst du dir denken, was das Wort „Himmelskönig“ hier bedeutet?
  • Was fällt dir auf, wenn du die Hirtenmusik, mit der die Musik für den zweiten Weihnachtstag beginnt, mit dem Engelsgesang „Ehre sei Gott in der Höhe“ vergleichst?

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