Verzeihen können (Lukas 15,11ff.)

Vorüberlegungen

Zu den bekanntesten Gleichniserzählungen Jesu gehört die vom verlorenen Sohn bzw. vom barmherzigen Vater. Dessen jüngerer Sohn hat das ihm zustehende Erbe eingefordert und ist fortgegangen. Der Plan von einem erfolgreichen Leben ging aber gründlich schief, und der völlig verarmte Sohn kehrt ins Elternhaus zurück. Der Vater nimmt ihn freundlich auf – das ist ein Bild für Gottes Zuwendung zu den Menschen und auch zum Verhalten Jesu gegenüber so manchen gescheiterten Existenzen.

Das Gleichnis hat aber noch einen zweiten Schwerpunkt, der das Verhalten des älteren Bruders in den Blick nimmt. Auf ihn ist diese Erzählung ausgerichtet. Er kann die vom Vater gewährte freundliche Aufnahme des Bruders nicht nachvollziehen. In einer ersten Szene führt uns die Erzählung zu einem erdachten Gespräch zwischen Vater, Mutter und dem zuhause gebliebenen Sohn und stimmt auf die gegensätzlichen Meinungen von Vater und Sohn ein. Mit der Rückkehr des jüngeren Sohnes werden dann diese beiden Überzeugungen als Verhaltensweisen konkret. Sie laden anschließend zu Gesprächen darüber ein, was dem Verzeihen-Können oft im Weg steht.

Erzählung

Jeden Abend, wenn die Arbeit auf dem Bauernhof getan ist und es langsam dunkel wird, sitzen Daniel und seine Eltern beim Abendessen zusammen und bereden, was an dem Tag so alles geschehen ist. Daniel ist heute ziemlich müde, aber er bleibt trotzdem noch eine Weile bei seinen Eltern sitzen. In eine Gesprächspause hinein sagt er: „Seit Tobias mit dem Geld fortgegangen ist, das du, Vater, ihm gegeben hast, ist für mich die Arbeit auf dem Feld viel schwerer geworden. Jetzt muss ich mich auch noch um all das kümmern, was Tobias vorher getan hat. Und weil er von dir so viel Geld mitbekommen hat, können wir keinen zusätzlichen Knecht bezahlen. Immer wieder denke ich: es war nicht recht, dass er uns mit all der Arbeit im Stich gelassen hat.“ Die beiden anderen sagen nichts dazu, bis dann die Mutter in eine andere Richtung weiterdenkt und fragt: „Wie es ihm jetzt wohl geht? So lange haben wir nichts von ihm gehört. Hoffentlich geht es ihm gut.“ „Dann hätte er doch etwas von sich hören lassen können“, antwortet Daniel brummig. Der Vater wendet ein: „Dort, wo er hingehen und mit dem Geld ein Haus bauen und mit seinen Ideen eine Firma gründen wollte, dort geht es jetzt allen Leuten schlechter, habe ich gehört.“ „Warum?“ fragt die Mutter nach, und der Vater ergänzt: „Weil dort zur Zeit eine große Hungersnot herrscht, alles sehr teuer geworden ist und die Leute viel Geld verloren haben.“ „Ob Tobias auch sein Geld verloren hat?“ fragt die Mutter beunruhigt.

Da schaltet sich Daniel wieder ins das Gespräch ein: „Dann wird er wohl wieder heimkommen. Aber wenn er bei uns so ohne alles Geld dasteht, dann soll er ruhig merken, dass es ein großer Fehler war, von uns wegzugehen und uns mit der Arbeit allein zu lassen. Freundlich kann ich ihn dann nicht begrüßen und willkommen heißen.“ Der Vater erwidert nachdenklich: „Er ist dein Bruder und unser Kind. Er gehört zu uns dazu. Vergiss das nicht! Das soll er spüren, wenn er kommt. Nur so können wir einen neuen Anfang miteinander machen.“ Die Mutter nickt. „Hoffentlich hat er nicht vergessen, dass er ein Zuhause und eine Familie hat.“ Daniel antwortet mit heftigen Worten: „Aber einfach so tun, als ob alles in Ordnung wäre, das kann ich nicht“. Da antwortet der Vater begütigend: „Jetzt wollen wir hoffen, dass er, wenn er wirklich in Not ist, seinen Weg nach Hause findet. Und so will ich ihn auch freundlich aufnehmen. Und über all das andere können wir immer noch sprechen, wenn es soweit ist“.

Eines Tages geschieht das, worüber die drei neulich gesprochen haben: Ein Mann nähert sich gebeugt und mit müden, langsamen Schritten dem Haus. Der Vater sieht ihn kommen und denkt sich: „Wohl wieder einer der Bettler, der um etwas zum Essen bittet, so zerlumpt, wie der aussieht.“ Doch dann sieht er genauer hin, erschrickt zuerst und ist dann ganz aufgeregt. „Das ist ja Tobias“, ruft er. Und dann läuft er ihm entgegen, so schnell er kann, kommt mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Aber der wehrt ab: „Ich habe es nicht verdient, dass du mich so freundlich begrüßt“, stammelt er. „Ich habe all mein Geld verloren“. Aber der Vater lässt sich nicht beirren: „Du bist und bleibst unser Sohn, was immer auch geschehen ist. Sei willkommen in deinem Elternhaus!“ Da lässt sich Tobias umarmen. Er lässt sich auch nach der herzlichen Begrüßung durch die Mutter gerne im Haus neue Kleider geben und sein Bett zeigen.

Einige Stunden später sitzt er mit Vater und Mutter an einem reich gedeckten Tisch. „Ich habe das nicht verdient, dass ihr mich so freundlich aufnehmt“, sagt er immer wieder. Aber die Mutter antwortet: „Lass es gut sein, darüber können wir später immer noch reden. Jetzt freuen wir uns, dass wir wieder zusammen sind.“

Am Abend kommt Daniel von seiner Arbeit nach Hause. Von den Knechten hat er erfahren, dass sein Bruder wieder da ist. Da verzieht er sein Gesicht und schaut finster. Und als er ins Zimmer tritt und sieht, wie die drei anderen fröhlich beisammen sitzen und feiern, da bricht es aus ihm heraus: „So, ist der feine Herr Sohn nun zurückgekommen, nachdem er all sein Geld verloren hat? Und ich habe hier gerackert und geschuftet, die ganze Zeit über“. Da antwortet Tobias: „Du hast recht. Ich habe es nicht verdient, freundlich aufgenommen zu werden. Am besten, ich gehe weiter und suche jemand, bei dem ich als Knecht arbeiten kann“. – „Bleib da“, antwortet der Vater mit klaren Worten“, ich will jetzt mit Daniel reden“. Er nimmt seinen älteren Sohn am Arm und geht mit ihm hinüber in einen Nebenraum. Die Mutter und Tobias können nicht verstehen, was die beiden reden, aber dass es heftig zugeht. Nach und nach wird das Gespräch zwischen Daniel und dem Vater ruhiger. Dann kommen die beiden wieder zurück ins Zimmer. Die Mutter und Tobias schauen sie mit fragenden Augen an: Was haben Vater und Sohn wohl im Nebenraum besprochen?


Gesprächsanregungen

  • Daniel wollte seinem Bruder nicht verzeihen. Was war es wohl, das ihn davon abgehalten hat?
  • Wie beurteilst du seine Gründe?
  • Wie hat der Vater wohl Daniel erklärt, warum er Tobias trotz allem so freundlich aufgenommen hat?
  • Was meinst du, ob Daniel das verstehen konnte?
  • Was hat die Mutter wohl gemeint, als sie sagte: „Gut, dass du wieder da bist. Über das andere können wir später immer noch reden“.

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