Ein fiktives Gespräch zu realen Zeitgenossen Luthers und ihre Bedeutung für die Reformation

Martin Luther steht zu Recht im Mittelpunkt des Reformationsgedenkens in diesem Jahr und natürlich auch am Gedenktag des Thesenanschlags. Er hat mit seinen 95 Thesen eine Bewegung in Gang gebracht, in der viele andere Zeitgenossen den Ball aufgenommen und die neuen reformatorischen Einsichten weitergetragen haben. Die sollen in diesem Reformatorengespräch in besonderer Weise zu Wort kommen, und zwar in der Auswahl von sechs Personen, von drei Männern und drei Frauen. Sie stehen in ihrem Wirken für das ein, was mit Luthers Entdeckungen in der Bibel neu geworden ist. Sie lebten zwar in etwa zur selben Zeit, als Zeitgenossen Martin Luthers, aber an verschiedenen Orten und sind wohl kaum einander begegnet. Aber das, wovon sie berichten und was ihr Leben verändert hat, das verbindet sie miteinander. Das ist der Anlass zu der folgenden fiktiven Gesprächssituation mit vielen Einblicken in historisch belegte Ereignisse der Reformationszeit.

In einer ersten Runde stellen sich diese Personen vor und erzählen, wie sie erstmals den Impulsen Martin Luthers begegnet sind.

 

Erster Teil: Erste Begegnungen mit Luther

 

Lazarus Spengler

Ich bin Lazarus Spengler, erster Stadtschreiber in der Freien Reichsstadt Nürnberg. Meine Aufgabe ist es, die Beschlüsse des Stadtrats vorzubereiten und danach umzusetzen. Ich bin damit zugleich ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Rat und der Bürgerschaft. Ich trage mit an der Verantwortung, dass das städtische Leben in geordneten Bahnen verläuft. Ich bin 1479 geboren, also vier Jahre vor Martin Luther.

Auf Luthers Thesenanschlag und dessen Folgen waren wir in besonderer Weise vorbereitet. Wir – das ist ein Kreis von Leuten, die sich sehr für die reformerischen Ideen des Humanismus interessierten. Als dann Johann von Staupitz als Generalvikar des Augustiner-Eremiten-Ordens auf seinen Dienstreisen hin und wieder auch in Nürnberg predigte, waren wir von dessen Aufforderungen zu kirchlichen Reformen hell begeistert. So gut ich konnte, habe ich diese Predigten mitgeschrieben. Erst später erfuhren wir, dass Staupitz auch der geistliche Begleiter und Beichtvater Luthers im Erfurter Kloster war. Staupitz verkündete den gnädigen Gott, der den Menschen nicht ihre Unvollkommenheit vor Augen hält, um sie klein zu machen. Er eröffnet ihnen vielmehr die Freiheit zu einem aktiven, verantwortlichen und zuversichtlichen Leben. Daran steckte auch schon die Kritik am kirchlichen Ablasswesen, das die Lebensängste der Menschen schürt, um sie dann mit teuer bezahlten Heilsversprechen davon zu entlasten. Erst im Rückblick wurde uns klar, wie sehr Staupitz mit Luther mitlitt, der an diesem System fast zugrunde ging. Dieser Mönch Martin Luther stellte sich der Schuld am eigenen Versagen Gott gegenüber. Er durchschaute zugleich die kirchlichen Heilsangebote konsequent und radikal in ihrer Unzulänglichkeit und Oberflächlichkeit. So gesehen kannten wir indirekt schon viel von den Fragen, die Luther umtrieben und waren auf seine befreienden Antworten in den 95 Thesen vorbereitet.

Die Thesen wurden in Nürnberg zum fulminanten Medienereignis. Im Nu waren sie vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt und wurden zig-tausend Mal gedruckt. Zusammen mit Augsburg wurden wir zum wichtigsten Medienzentrum der Reformation in Deutschland. Im Rückblick ist es mir fast ein Rätsel, wie es uns gelang, diese immensen Druckkapazitäten zu organisieren. Und dann ging es ja gleich mit den Flugschriften und wechselseitigen Streitschriften weiter.
Aber zurück zu Luther. Als er ein Jahr nach dem Thesenanschlag zum Verhör nach Augsburg reiste, da machte er Zwischenhalt in Nürnberg und besuchte unsere Gesprächsrunde. Wir waren beeindruckt von seiner Ausstrahlungskraft und der Energie, mit der er seine Einsichten erklärte. Immer wieder bezog er sich auf sein Gewissen, das ihn zuvor bis in die tiefsten Tiefen der Verzweiflung hinabgezogen hatte und das ihm dann ganz neue, befreiende Perspektiven seines Glaubens eröffnete.

 

Martin Bucer

Da möchte ich mich gerne ins Gespräch einschalten. Im selben Jahr 1518 habe auch ich Martin Luther persönlich kennengelernt. Ich bin Martin Bucer, acht Jahre jünger als mein Namensvettert. Ich bin im Elsaß aufgewachsen und dort Dominikaner-Mönch geworden. 1517 wurde ich von meinem Orden zum Studium nach Heidelberg geschickt. Dort fand im folgenden Jahr 1518, eine höchst beachtliche Disputation mit Luther statt, die Staupitz angeregt hatte. Was uns zutiefst beeindruckte, war die Klarheit und Stringenz von Luthers Gedanken, in denen er seine neue Sichtweise in biblischen Zusammenhängen verankerte. Er tat das nicht nur in bloß herbeizitierten einzelnen Sätzen, sondern in der Entwicklung biblischer Leitperspektiven. Das war für uns das Tor zu einer ganz neuen Art, Theologie zu betreiben. Von unserem Heidelberger Studienkreis gingen dann mancherlei reformatorische Impulse aus. Das waren teilweise andere Wege als die der Wittenberger Reformation. Aber mit Martin Luther wurde uns damals deutlich, wie neue Glaubenseinsichten dem Leben eine ganz andere Wendung geben können. Bei Luther war es die Wendung zum befreiten Gewissen, bei mir waren es dann vor allem Folgerungen und Konsequenzen für das Zusammenleben in einer biblisch-christlichen Gesinnung. Für mich als Reformator in Südwestdeutschland wurde die Freie Reichsstadt Straßburg gewissermaßen zu einem Experimentierfeld für ein Miteinander im christlichen Geist – geleitet und geordnet von einem in diesem Sinne wirkenden Rat der Stadt, biblisch untermauert von den Geistlichen der Gemeinden, gelebt von allen Bürgerinnen und Bürgern. Ich gebe zu, wir beiden Martins haben uns bis kurz vor Luthers Tod nie gut miteinander verstanden. Aber die Impulse für meine Tätigkeit als Reformator hat er gesetzt.

 

Argula von Grumbach

Was ihr, Doktor Martinus Bucer, von Euren Zielen berichtet, klingt sehr gut. Aber es birgt doch auch enorme Probleme, wenn Altes und Neues unvermittelt aufeinander prallen. Ich bin Argula von Grumbach, stamme aus der Regensburger Gegend. Ich bin 1492 geboren, also fast gleichalt wie Ihr und gehöre zur Familie des Reichsfreiherrn Bernhardin von Stauff. Ich bin in einem für alles Neue offenen Elternhaus aufgewachsen. Ich lernte zu Hause früh das Lesen und Schreiben, aber als Mädchen natürlich weder Latein noch Theologie. Mit zehn Jahren bekam ich von meinen Eltern eine deutsche Bibel geschenkt, es war freilich noch keine Lutherbibel. Sie wurde mein Hausbuch. Mit ihr versuchte ich mir etwas von dem zu erobern, das mir als Mädchen eigentlich verschlossen war. Nach meiner Verheiratung mit Friedrich von Grumbach setzte ich mich für die Förderung der Frauen im Lesen und Schreiben, in Ernährungs- und Heilkräuterkunde in unserem Pflegamt Dietfurt im Altmühltal ein.

Bei einer Reise nach Würzburg lernte ich den reformatorisch gesinnten Domprediger Paul Offer kennen. Mich beeindruckte, wie er offen zu seiner eheähnlichen Beziehung zu seiner Haushälterin stand und dies mit biblischen Argumenten vertrat. Über ihn kam ich an Luthers Reformschriften von 1520/21 heran. Besonders die an den Adel der deutschen Nation hat mich sehr angesprochen. In ihr hat er sich ja auch engagiert für die Mädchenbildung eingesetzt. Mir ging damals ein Licht auf, wie so viele Zwänge als von Gott gegeben hingenommen wurden, obwohl es für sie keinerlei Anhalt in der Bibel gibt. Mein lieber Friedrich hatte dafür allerdings keinerlei Verständnis. Er wollte seinem Herzog Wilhelm in München treu bleiben, jeden Konflikt mit ihm vermeiden. Aber ich wollte keinesfalls hinter den durch Martin Luther gewonnenen Weitblick wieder zurück. Spannungen in unserer Familie wurden unvermeidlich, aber die musste ich bis fast zum Zerbrechen der Familie hinnehmen und durchfechten.

 

Anna von Lodron

Solche Zerreißproben sind mir zum Glück erspart geblieben. Ich bin Anna von Lodron aus Süddtirol, 1495 geboren, also nur ein paar Jahre jünger als ihr. Mein Mann ist der bekannte Landsknechtshauptmann Georg von Frundsberg, auch aus Südtirol. Wir sind dann allerdings nach Schwaben gezogen, haben uns in der Mindelburg bei Mindelheim niedergelassen, aber auch noch Gebiete in Sterzing am Brenner behalten. Mein Mann war als treuer Diener des Kaisers die meiste Zeit auf Kriegszügen unterwegs, und so hatte ich mir immer wieder Leute auf die Mindelburg eingeladen, die mir von Neuigkeiten im Land berichteten. So lernte ich auch reformatorisch gesonnene Prediger kennen und begann, mich für die neuen Ideen aus Wittenberg zu interessieren. Ich spürte freilich bald, dass die Reformationsbewegung keine einheitliche Glaubenssicht ist, sondern sich in vielerlei Strömungen verzweigt. Unsere Nähe zu Bodensee und Schweiz brachte mir auch Zwinglis Reformation in Zürich näher, auch Prediger, die noch radikaler als Luther und Zwingli den Worten der Bibel folgten, zum Beispiel die Kindertaufe ablehnten.

Von Martin Luther selbst erfuhr ich dann von meinem Mann, der ja 1521 beim Reichstag in Worms auch dabei war. Er war zutiefst beeindruckt von der Standfestigkeit dieses Mönchs, der den versammelten Mächtigen des Reichs Widerpart bot. Was muss das für ein Bild gewesen sein: die Reichsversammlung, alle in den prächtigen Gewändern, die ihre Würde zum Ausdruck brachten, und dann der Mönch in seiner ärmlichen Kutte. Und dieser Mönch hatte den unglaublichen Mut, gegen den Willen des Kaisers und seiner Ratgeber das Recht auf die Erläuterung seiner biblischen Überzeugung und damit verbundenen Kirchenkritik einzufordern. Das konnte ja nicht gut gehen. Georg hat auch selbst Martin Luther etwas zugerufen, so ähnlich wie: „Mönchlein, Mönchlein, Du geht jetzt einen Gang, dergleichen ich und meine Obristen auch in der allgefährlichsten Schlacht nicht getan haben. Bist Du aber rechter Meinung und deiner Sache gewiss, so fahre in Gottes Namen fort und sei getrost."

Uns beiden wurde bald klar, dass mit der unvermeidlichen Verurteilung in die Reichsacht die Sache Luthers entweder rasch erledigt war - oder sie wurde zu einem permanenten Zankapfel der Reichspolitik, wie es dann auch geschah. Bald standen sich zwei politische Lager gegenüber: die Unterstützer der Reformation, die aber politisch und auch militärisch so stark sein mussten, um eine Durchsetzung des Reichstagsabschieds abwenden zu können. Auf der anderen Seite waren diejenigen, die mit dem Kaiser durch militärische Gewalt die Rückkehr zum religiösen und politischen Frieden im Reich erzwingen wollten. Mir wurde auch bald klar, dass diese Front bis in unser Familienleben hinein reichte. Mein Mann blieb trotz hoher Sympathie für den Mönch Martin Luther treu auf des Kaisers Seite, während ich mich immer mehr zur reformatorischen Seite hingezogen fühlte. Immerhin kam es in unserer Ehe nie zum Zerwürfnis. Da ging es mir viel besser als

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Elisabeth von Sachsen

Und auch viel besser als mir! Ich bin Elisabeth von Sachsen. Ich bin noch jünger als ihr alle, 1502 geboren. Im Jahr des Thesenanschlags war ich also erst 15 Jahre alt, aber bereits mit dem Sohn des Herzogs Georg von Sachsen, Johann, verheiratet. Ich erlebte also die stürmischen Jahre nach dem Thesenanschlag von Dresden aus. Ich bin die Tochter des Landgrafen von Hessen. Meine Familie wandte sich frühzeitig der Reformation zu, mein Bruder Philipp wurde sogar ihr politisch-militärischer Wortführer. Die Fürstentümer von Hessen, Sachsen-Dresden und Sachsen-Torgau waren lange Zeit verwandtschaftlich und freundschaftlich eng miteinander verbunden. Deswegen waren wir alle über meine Heirat nach Dresden glücklich und voller froher Erwartungen. Aber während Kurfürst Friedrich seine schützende Hand über die Wittenberger Reformation hielt und mein Bruder ihm treu zur Seite stand, wurde mein Schwiegervater immer mehr zum erbitterten Gegner der Reformation. Mein Ehemann Johann kam damit nicht zurecht. Das gemeinsame Leben im Dresdner Schloss wurde mir immer mehr zur Qual. Der Kurfürst und Bruder Philipp konnten nur bedingt eingreifen, ohne militärische Gefahren heraufzubeschwören. Aber ich wollte meine Überzeugung nicht verleugnen. Mein Schwiegervater sah darin jedoch den Keim zu Unfrieden und Unordnung im ganzen Sachsenland. Er pochte auf den einheitlichen alten Glauben von uns allen im Schloss, um allen Untertanen im Land ein gutes Vorbild zu sein. Alle Versuche, zusammen mit Johann zumindest das Dresdner Schloss verlassen zu dürfen und einen eigenen Haushalt zu gründen, scheiterten. Georg wollte mich in seinem Haus zur gemeinsamen Ordnung zwingen.

 

Johannes Bugenhagen

Die Befürchtungen Herzog Georgs waren freilich nicht ganz unbegründet. Schließlich war die Wittenberger Reformation auch mit Unruhen verbunden. Wo die Bischöfe ihre Macht verloren, entstanden rechtsfreie Räume. Wo der mit der Androhung von Sündenstrafen erzeugte Druck der Priester wirkungslos wurde, da wurde oft auch die neue Freiheit als Einladung zu Beliebigkeit und Verantwortungslosigkeit missverstanden.

Ich bin Johannes Bugenhagen. Ich bin 1485 in Wollin in Pommern geboren, also nur zwei Jahre jünger als Martin Luther. In den Anfangsjahren der Reformation war ich Schullehrer in Treptow an der Rega. Als Leiter einer Internatsschule war es mir ein Anliegen, den Schülern, die zum Teil von weit her kamen, so etwas wie eine neue Heimat zu bieten. Inhaltlich hatte ich großes Interesse am persönlichen Studium der Bibel und ich gab meine Erkenntnisse und gewonnenen Einsichten gerne an meine Schüler weiter. Auch die Erwachsenen luden mich zu regelmäßigen Bibelgesprächen ein, später sogar auch das nächstgelegene Kloster zur bibelkundlichen Ausbildung der Mönche.

Meine erste Begegnung mit Luther geschah wie bei Argula von Grumbach über das Lesen seiner Programmschriften von 1520/21. Ich bekam die Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ in die Hände, in der Luther bis ins Detail und aus biblischer Sicht die Missstände im kirchlichen Leben anprangert. Zuerst war ich sehr verärgert. Die Kritik erschien mir maßlos überzogen. Aber dann las ich noch einmal und nahm diesmal mehr die biblischen Begründungen in den Blick. Und da änderte sich mein Urteil. Ich musste anerkennen, wie genau Luther seine Gedanken biblische begründete. Als Bibelkenner und Bibellehrer faszinierte mich das und ich hatte nur noch das Ziel, diesen Mann kennenzulernen und bei ihm zu studieren. Ich machte mich auf nach Wittenberg. Enttäuschend war für mich nur, dass unmittelbar nach meiner Ankunft dort Luther nach Worms abreiste und dann ja erst einmal auf der Wartburg Schutz bekam. Aber Philipp Melanchthon nahm mich in sein Haus auf, wir wurden rasch gute Freunde. Das geschah auch bald nach meinen ersten Begegnungen mit Martin Luther. Ich gehörte von da an zum engsten Kreis der Wittenberger Reformatoren und wurde Stadtpfarrer in Wittenberg. Da war ich dann hautnah mit den Herausforderungen beschäftigt, den Wandel vom alten zum neuen Glauben möglichst gut zu ordnen.

 

In den sechs Personen wurden die frühen Jahre der Reformation lebendig... 

  • in dem, was Lazarus Spengler in Nürnberg zu der Wendung von Johann von Staupitz zu Martin Luther erzählte und Martin Bucer von seiner Begegnung im Rahmen der Heidelberger Universität
  • in dem, was Argula von Grumbach, Elisabeth von Sachsen und auch Johannes Bugenhagen lasen und was sie nicht mehr losließ,
  • in dem, was Anna von der Mindelburg von ihrem Mann vom Reichstag in Worms erzählt bekam.

Erinnern Sie sich auch an die Problemfelder, die sich dabei schon auftaten:

  • das Problem von Unordnung und Ordnung, Freiheit und Verantwortung
  • von der Verflechtung der reformatorischen Theologie mit politischen Konstellationen
  • von eigener Standhaftigkeit in schwierigem Umfeld.

 

Zweiter Teil: Was den sechs Personen an der Reformation besonders wichtig war

 

Lazarus Spengler

Erinnern Sie sich? Ich bin Lazarus Spengler, der Nürnberger Stadtschreiber und Mitglied im Kreis der Staupitz- und Lutherfreunde.
1525 waren wir die erste Freie Reichsstadt, die sich zur Reformation bekannte und sie einführte. Evangelische Prediger hatten die Bürgerschaft darauf vorbereitet. Luthers Schriften wurden von vielen gelesen und vorgelesen, und nun drängte die Bürgerschaft auf entsprechende Ratsentscheidungen. Aber als Freie Reichsstadt sind wir ja direkt dem Kaiser unterstellt. Wir sind die Stadt häufiger Reichstage. Auch die Reichskleinodien, also die Insignien kaiserlicher Macht, sind in Nürnberg verwahrt. Das Reichsregiment, das heißt die Reichsregierung zwischen den Reichstagen hat ihren Sitz in Nürnberg. Kurzum, wir stehen im Rampenlicht der politischen Öffentlichkeit.

Wir legten dem Kaiser gegenüber dar, dass die Einhaltung der öffentlichen Ordnung nur mit der Einführung der Reformation gewährleistet sei. Nur so könnten die ausgebrochenen konfessionellen Streitigkeiten eingedämmt werden. Wir wussten nicht, wie die Sache ausgehen würde. Aber es gelang uns, mit klaren Regeln einer biblisch begründeten Ethik eine gute Stadtordnung auf den Weg zu bringen.

Reformation heißt für mich vor allem, Neues zu wagen und in geordnete Bahnen zu lenken.

Ins Nachdenken bin ich allerdings in Gesprächen mit Hans Sachs gekommen, dem berühmten „Schuhmacher und Poet dazu“, wie er sich nannte. Er warf mir vor, diese Ordnung durch Ausgrenzung derer erkauft zu haben, die sich nicht zum lutherischen Glauben bekennen. Er, der Martin Luther in einem langen Gedicht als die „Wittenbergische Nachtigall“ besungen hatte, fragte jetzt nach dem Recht der altgläubig Gebliebenen, an ihrer Tradition festzuhalten. Er forderte auch das Recht für diejenigen die von der Züricher Reformation Ulrich Zwinglis geprägt sind, auch für die Christen, die in kleinen Gemeinschaften ihren ganz eigenen Glaubensweg mit der Bibel und Erleuchtung durch den Heiligen Geist gefunden haben – so wie die beiden Malergesellen aus Dürers Werkstatt, die um ihres Glaubens willen die Stadt verlassen mussten. Er erinnerte mich an den Streit mit der Äbtissin Caritas Pirckheimer, die ihre Nonnen vor lutherischer Zwangsbekehrung zu schützen versuchte. Und er fragte mich, was eine neue, biblisch bestimmte Stadtordnung wert ist, wenn die reichen Handelshäuser nach wie vor die Löhne der sie beliefernden Handwerker so herunterdrücken, dass es für sie und ihre Familien kaum mehr zu Leben reicht.

Wenn ich das ernst nehme, heißt für mich Reformation auch, über das Gewohnte hinaus zu denken, sich kritischen Anfragen zu stellen, auch wenn das nicht ohne Konflikte geht.

Elisabeth von Sachsen

Dazu kann ich, Elisabeth von Sachsen, auch etwas beitragen. Als überzeugte Anhängerin der Reformation hatte ich im katholisch gebliebenen Dresdner Schloss einen sehr schweren Stand. Meine Leidenszeit endete erst mit dem unerwarteten, frühen Tod meines Ehemannes Johann. Dessen Tod traf mich zwar hart, aber er eröffnete mir zugleich eine neue Zukunft. Der Ehevertrag sah im Falle meiner Witwenschaft ein eigenes Wittum, also eigenes Herrschaftsgebiet im Herzogtum Sachsen vor. Ich bezog das Schloss in Rochlitz und machte mich zügig an die Einführung der Reformation. Freilich versuchte mein Schwiegervater Herzog Georg, mir alle möglichen Stolpersteine in den Weg zu legen. Immer wieder musste mir Bruder Philipp helfen, die mir zustehenden Rechte einzufordern.
Georg schrieb mir einmal süffisant: In Dresden hast du mit aller Macht um die Freiheit deines Glaubens gekämpft. Wie willst du es nun mit der gleichen Freiheit der Altgläubigen halten? Das traf mich und ich beschloss, den Priestern und ihren Glaubensgenossen, die nicht evangelisch werden wollten, das Recht auf ihren eigenen Glauben zuzugestehen. Das war nicht einfach, schon gar nicht in den Zeiten konfessionell-politischer Bündnispolitik und drohendem Religionskrieg. Ich trat als einzige Frau zum Schutz der Reformation dem Bündnis der protestantischen Fürsten bei und achtete zugleich das Recht der katholisch Gebliebenen im eigenen Land. Das stieß auf manches Unverständnis und ich musste mit mancherlei Konflikten zurechtkommen.

Reformation heißt für mich, die uns von Luther verständlich gemachte Freiheit eines Christenmenschen für sich selbst zu hüten und sie zugleich anderen, auch Andersdenkenden einzuräumen.

 

Anna von Lodron
Wie verschieden und wie zugleich ähnlich die Herausforderungen sind! Ich, Anna von Lodron und Burgherrin der Mindelburg bei Mindelheim, allein verantwortlich während der Abwesenheiten meines Gatten Georg von Frundsberg, hatte durch meine Besucher verschiedene Facetten des neuen reformatorischen Glaubens kennengelernt. Durch reichsrechtlich geschaffene vorläufige Regelungen waren die evangelisch gewordenen Fürsten samt ihren Untertanen geschützt. Das galt im Deutschen Reich aber fast ausschließlich für die Anhänger der Wittenberger Reformation. Anders Glaubende wurden weitgehend zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen. Am härtesten traf es die sogenannten Schwärmer, von denen Lazarus Spengler sprach, also diejenigen, die sich unmittelbar vom Hl. Geist leiten lassen, und die sog. Wiedertäufer, die die Kindertaufe als unbiblisch ablehnen. Die fielen durch alle Ritzen reichsrechtlicher Schutzregeln, waren oft auch in evangelischen Territorien vom Tod bedroht.

Es sprach sich schnell herum, dass ich ihnen in unserem Herrschaftsbereich Zuflucht gewährte. Das galt auch für unsere Gebiete bei Sterzing am Brenner und Umgebung und damit in großer Nähe zum kaiserlichen Regierungszentrum in Innsbruck. Immer wieder wurde ich aufgefordert, die bestehenden Gesetze zu achten und die Glaubensflüchtlinge auszuweisen. Ich konnte mich nicht wie Elisabeth von Rochlitz auf bestehende Vertragsrechte stützen, sondern musste mir gewissermaßen in einen rechtsfreien Raum schaffen und erhalten. Für mich war das eine geduldige Hinhaltetaktik. Ich konnte mich auf das Ansehen meines Gatten berufen, auf seine häufige Abwesenheit, auch auf seine Verletzungen, die er sich im Dienst des Kaisers zuzog und die ihn in Oberitalien festhielten. Ohne seine Anwesenheit und ausdrückliche Beauftragung wollte ich keine der geforderten Entscheidungen treffen. Der Schutz, den ich bieten konnte, war ein zerbrechlicher und gefährdeter, aber es war meine Weise, anderen wenigstens zeitweise zu ihrem Recht auf Leben zu verhelfen.

Reformation ist für mich die Aufgabe, in jedem Menschen das Ebenbild Gottes zu sehen und auch mit noch so begrenzt erscheinenden Möglichkeiten dafür einzutreten.

 

Martin Bucer
Es ist ja wie eine verkehrte Welt: Ihr habt als theologische Laien in politischer Verantwortung so überzeugend Räume für die Freiheit des eigenen Glaubens erkämpft, und jetzt komme ich, Martin Bucer, als Theologe und muss aus politischer Sicht einiges gerade rücken. Als Reformator der Freien Reichsstadt Straßburg war ich auch vom Rat zu den Reichstagen berufen. 1529 erlebten die evangelischen Stände auf dem Reichstag in Speyer eine schwere Niederlage. Die Duldung der Reformation in den evangelischen Territorien wurde aufgehoben. Unter Protest verließen deren Vertreter die Versammlung und wurden fortan Protestanten genannt. Der politische Konflikt spitzte sich zu, Kriegsgefahr lag in der Luft. Jetzt war es die Aufgabe und letzte Chance der Theologen, mit einem klaren Bekenntnis aller Evangelischen gesprächsbereit in die nächsten Reichstagsverhandlungen einzutreten, die 1530 in Augsburg die endgültige Beantwortung der Religionsfrage zum Ziel hatten. Noch 1529 rief Philipp von Hessen die Wortführer der beiden bedeutendsten reformatorischen Richtungen, Martin Luther aus Wittenberg und Ulrich Zwingli aus Zürich dazu auf, ein überzeugendes Dokument der Gemeinsamkeit zustande zu bringen. Doch das misslang gründlich. Luther und Zwingli fanden einfach keinen Draht zueinander. Auf dem Augsburger Reichstag bot die evangelische Seite dann ein Bild der Zerrissenheit. Auf der einen Seite legte Philipp Melanchthon seine bestechend klare Confessio der Lutheraner vor. In ihr lotete er zugleich alle Möglichkeiten aus, zwischen lutherischen und katholischen Positionen noch eine Einigung zu erreichen. Auf der anderen Seite legten die Schweizer ein eigenes Bekenntnis vor, die Helvetische Konfession. Und dazwischen standen die süddeutschen Freien Reichsstädte, die ihre eigene Position zwischen diesen beiden Glaubensrichtungen suchten. Ich wurde beauftragt, auch sie mit einzubinden und erreichte in mühsamen Verhandlungen und unter großem Zeitdruck eine eigene Erklärung von Straßburg, Lindau, Konstanz und Memmingen, die sogenannte Confessio Tetrapolitana, die allerdings kaum noch Beachtung fand. Schlimmer konnte es für die evangelische Seite ja kaum kommen.

In den kommenden Jahren war ich unermüdlich unterwegs, um Brücken zu bauen zwischen den konfessionellen Lagern. Aber Annäherungen an die eine Seite brachten mir Ablehnung der anderen ein. Das einzige Ziel, das ich schließlich zusammen mit Philipp Melanchthon erreichte, war die Wittenberger Konkordie, die alle Evangelischen im Reich, also die Wittenberger und die Freien Reichsstädte, auf einen Nenner brachte, und – endlich – konnte ich auch die Sympathien Luthers gewinnen. Das brachte mir allerdings zugleich den Abbruch der Beziehungen zu den Schweizer Freunden ein. Ich muss zugeben, die Gemeinden der Spiritualisten und Wiedertäufer in diese Verständigungsbemühungen einzubinden, das ist mir nicht gelungen.

Reformation ist für mich die Aufgabe, unablässig an einem klaren Profil des Evangelischen zu arbeiten, das der gegebenen Vielfalt gerecht wird und zugleich verbindende und verpflichtende Gemeinsamkeiten festhält. Dabei soll niemand übersehen und ausgegrenzt werden.

 

Johannes Bugenhagen

Das Ringen um Klarheit des Evangelischen hat mich, Johannes Bugenhagen, all meine Jahre in Wittenberg beschäftigt und auch weit über meine Aufgaben als Stadtpfarrer von Wittenberg hinausgeführt. Was Lazarus Spengler für seine Aufgaben in Nürnberg beschrieben hat, das waren meine entsprechenden im gesamten norddeutschen Raum, bis zu meiner Pommerschen Heimat und zu Dänemark. Wo bisherige bischöfliche Rechtsordnungen und Machtstrukturen abgeschafft wurden, mussten neue Ordnungen entstehen. Es waren Regelungen für das kirchliche Wesen, aber auch für ein verantwortliches Miteinander in der Gesellschaft. Das sollte nicht länger durch Drohungen vor einem strafenden Gott motiviert sein. Es sollte vielmehr aus den Impulsen des von Gott geschenkten Lebens heraus wachsen, das zum dankbaren Weitergeben an andere drängt. Es galt Erwartungen an die angehenden evangelische Pfarrer festzulegen, Visitationsordnungen zu erstellen, Kirchen- und Gemeindeordnungen für Städte und Länder. Diese Aufgaben führten mich durch das ganze Kurfürstentum Sachsen, nach Braunschweig, in die Hansestädte und Länder an der Ostsee. Man nennt mich auch den Bischof der Reformation. Am meisten hat es mich gefreut, wenn es gelungen ist, in den Gesprächen mit Räten, Pfarrern und Bürgern in der ganzen Stadt in diesen Ordnungen die Botschaft der Reformation erkennbar zur Geltung zu bringen.

Als Seelsorger der Wittenberger Stadtgemeinde kamen immer wieder Eltern zu mir, die ihr tot geborenes Kind beklagten. Das Schlimmste für sie war nicht der Tod des Kindes, sondern dass es ungetauft blieb und so nicht Eingang ins Himmelreich finden konnte. Verkündigung des Evangeliums konnte da nur heißen: Kein Mensch, auch kein Kind - ob getauft oder nicht - ist für Gott verloren. Zusammen mit der Sorge für die nötige Zahl der Hebammen kam auch diese Verkündigungsaufgabe in die Braunschweiger Kirchenordnung hinein.

Reformation heißt für mich, die befreiende Botschaft des Evangeliums von dem uns freundlich zugewandten Gott dorthin zu bringen, wo die Menschen leben, wo sie sich mit ihren Fragen und Sorgen herumplagen. Das ist der eigentliche Sinn eines gut organisierten Kirchenwesens mit seinen Ordnungen.

 

Argula von Grumbach

Das mit den Hebammen als Verkünderinnen des Evangeliums hat mich sehr berührt. Und auch die Aufgabe, dorthin zu schauen, wo Lebens- und Glaubensnot herrscht. Da kann ich, Argula von Grumbach, auch von meiner Tat erzählen, mit der ich als Anhängerin der Reformation bekannt geworden bin, weit über meine Familie und das Pflegamt in Dietfurt hinaus.

Als in Ingolstadt der Student der Theologie, Arsacius Seehofer, begeistert von seinem Studienaufenthalt aus Wittenberg zurückkam und seine neuen Einsichten im Kreis seiner Kommilitonen kundtat, setzten die Professoren alles daran, ihn mundtot zu machen. Sie bedrohten ihn mit Arrest und Gefängnis, dem Verlust aller Rechte, kündigten auch Sanktionen gegen seine Eltern an. So schüchterten sie den jungen Mann ein und erreichten ihr Ziel. Ins Kloster Ettal hat er sich dann schweigsam zurückgezogen.

Ich aber musste reden, und zwar in einem flammenden Beschwerdebrief an die Hohe Schule in Ingolstadt. Ich forderte zu einer theologischen Auseinandersetzung in deutscher Sprache über Aussagen der Bibel auf, die ich in dem Brief ausführlich darlegte. Ich hätte mir gleich denken können, dass dieser Versuch, die Ansichten der Universität zu widerlegen, im Sande verlief. Ich bekam nie eine Antwort von dort. Wahrscheinlich hielten sie mich für verrückt. Ich schrieb dann noch einen zweiten Brief an Herzog Wilhelm in München, den ich bei meiner Zeit am Münchner Hof kennengelernt hatte. Er hatte mir damals versprochen, immer ein offenes Ohr für meine Anliegen zu haben. Von ihm erhielt nur mein Mann die Aufforderung, sein Eheweib an die Kandare zu nehmen, notfalls Hausarrest oder Schlimmeres über sie zu verhängen. Eine Abschrift des Briefes an die Universität schickte ich auch dem Nürnberger Reformator Andreas Osiander. Der ließ den Brief drucken, und er wurde von vielen gelesen. In vierzehn Auflagen zu je tausend Exemplaren wurde er zu einer der damals meist verbreiteten Schriften. Warum wohl? Weil ich es wagte, als Frau ohne Lateinkenntnisse, ohne akademische theologische Bildung die Gelehrten mit Argumenten aus der Botschaft der Bibel herauszufordern? Ich weiß es nicht. Das Leben meiner Familie wurde damit natürlich noch mehr belastet. Über uns wurden existentiell bedrohliche Sanktionen verhängt. Aber ich konnte doch nicht schweigen.

Reformation heißt für mich, die Stimme zu erheben, wo im Namen des Glaubens Menschen unter Druck gesetzt werden, wo ihnen das Recht auf ihr Leben und ihre freie Überzeugung genommen wird.

 

Unsere sechs ausgewählten Reformatoren, Frauen und Männer, haben benannt, was ihnen an der Reformation wichtig ist:

  • Lazarus Spengler: Reformation heißt für ihn, Neues zu wagen und nie aufzuhören, mit der Botschaft des Evangeliums weiterzudenken, den Blick auf anstehende Herausforderungen hin zu weiten.
  • Elisabeth von Sachsen: Reformation heißt für sie, auf der Freiheit zum eigenen Glauben zu beharren und dies auch allen anderen zuzugestehen.
  • Anna von der Mindelburg: Reformation heißt für sie, die Vielfalt eines Glaubens mit der Bibel anzuerkennen und denen zu helfen, die mit ihrer Lebens- und Glaubensgeschichte unter die Räder zu kommen drohen.
  • Martin Bucer: Reformation heißt für ihn, dem Glauben im Zeichen des Evangeliums eine klare Sprache zu geben und nicht aufzuhören, das verbindende Gemeinsame zu suchen.
  • Johannes Bugenhagen: Reformation heißt für ihn, ein geordnetes Kirchenwesen mit hilfreichen Auswirkungen ins ganze gesellschaftliche Umfeld hinein zu schaffen und zu fördern, in dem die leitende Stimme des Evangeliums erkennbar ist und bleibt.
  • Argula von Grumbach: Reformation heißt für sie, die Botschaft des Evangeliums deutlich und vor allem dort zur Sprache zu bringen, wo Menschen unterdrückt und gedemütigt werden, wo ihnen die Freiheit zum Glauben und Leben genommen wird.

Ausführliche Erzählungen zu diesen Personen in der Reihe der Reformationserzählungen

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