Wer ist mein Nächster?  (Lukas 10,25ff.)

 

Ziel:
• sich in die Rolle des Hilfesuchenden hineinversetzen, seine Hoffnungen, Enttäuschungen und Erleichterung mitempfinden
• unterschiedliche Gefühle in der Rolle des Helfers wahrnehmen
• bedenken, was mit dem Wort „Nächster“ gemeint sein könnte


Im Neuen Testament selbst taucht dieses Gleichnis zwar nur im Lukasevangelium (Lk 10,25ff.) auf, hat aber Vorläufer im Markus- und Matthäusevangelium, nämlich in Gesprächen frommer Zeitgenossen mit Jesus, in denen es um das Leben und Handeln nach Gottes Willen geht. Im Buch des Markus, dem ältesten Evangelium, fragt ein Schriftgelehrter nach dem höchsten Gebot, und Jesus antwortet: „Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Das andere ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ Mk 12,28ff.). Jesus zitiert hier Spitzenformulierungen des Alten Testaments, zum Monotheismus in ethischer Perspektive das sog. „Doppelgebot der Liebe“. In ihm finden wir die religiöse Dimension des ethischen Handelns in verdichteter Form: Das Bekenntnis zum einen Gott verweist auf den Ursprung unserer Existenz als das uns von Gott geschenkte Leben. Der Dank dafür findet in der Gottesliebe seinen Ausdruck. Das führt weiter zur Achtung dieser wertvollen Gabe in der Beziehung zu sich selbst und in der Weitergabe dieses Geschenks an andere, die es zu verlieren drohen. Im Markusevangelium wird Jesus vom Schriftgelehrten respektvoll gelobt und dieser gibt dasselbe seinem Gesprächspartner zurück. Bei Matthäus (Mt 22,35-40) schleicht sich eine Spitze gegen die fragenden Pharisäer ein, die vergeblich versuchen, Jesus aufs Glatteis zu locken.

Im Lukasevangelium nun entwickelt sich ein ausführlicheres Gespräch. Der Schriftgelehrte fragt – wie bei Matthäus, aber Jesus antwortet nicht, sondern gibt die Frage zurück: Was sagen uns die überlieferten biblischen Weisungen? Der Schriftgelehrte zitiert sie und Jesus fordert ihn auf, entsprechend zu handeln. Der wiederum fragt zurück, wer denn unter dem „Nächsten“ zu verstehen sei, und erwartet wohl eine detaillierte Aufzählung (Freunde, Volksgenossen, Notleidende usw.). Aber Jesus antwortet mit einer Geschichte, in der es zu einem bedenkenswerten Perspektivenwechsel kommt. Nächster ist in ihm nicht mehr das Objekt der Hilfe, der Überfallene, sondern das Subjekt des Helfers, auf den der Überfallene dringend wartet. Die Frage Wer ist mein Nächster? heißt nun: Wer derjenige, der mich als Nächsten braucht?

Was zunächst als spitzfindige Unterscheidung erscheinen mag, eröffnet aber eine neue Sichtweise: Wer auf mich als Nächsten angewiesen ist, kann ich nicht unabhängig von der konkreten Situation bestimmen, etwa in Aufzählungen und Richtlinien, sondern nur im genauen Hinschauen und sorgsamen, sensiblen und entschiedenen Reagieren. Die zuerst Vorübergegangenen, Priester und Levit, ließen sich nicht als Nächste erreichen – sie durften nach den kultischen Regeln auch nach dem Tempelgottesdienst nicht mit Blut in Berührung kommen. Der Ausländer hätte sich nach der engeren Definition gar nicht als Nächster angesprochen fühlen müssen. Und doch hat er es aus der Wahrnehmung der Situation heraus getan. Er hat gespürt und erkannt, dass er für den Überfallenen der lebensrettende Nächste war. Er hat sich herausfordern lassen mit seinen eigenen Möglichkeiten und auch mit dem Einbeziehen weiterer Hilfssysteme, wie es etwa die Herberge in der biblischen Erzählung ist.

Auf die Kinder bezogen heißt das: Es geht in der ethischen Erziehung nicht um das Sammeln von möglichen Nächsten, das Aufzählen von allen möglichen Typen der Hilfsbedürftigkeit, um ein Regelwerk der moralischen Pflichten, sondern um das sich Berühren- und Ansprechen-Lassen als Nächster. Dazu helfen keine Pflichten-Register, sondern konkrete Beispiele, in denen es ganz und gar um das Hinschauen und Handeln geht, um das sich Hineinbegeben in die Sichtweise des anderen, um ein Wahrnehmen und Denken vom anderen her, von dem, was er braucht. Dazu kommt dann auch das Prüfen und Umsetzen, worin und wie ich in dieser Situation ein Nächster sein kann und will.

Neben Alltagserlebnissen können Beispielgeschichten gut dazu anleiten, sich anschaulich in der Rolle des helfenden Nächsten wieder zu finden, aber in einer Art und Weise, in der zugleich das Wahrnehmen vom anderen her deutlich zur Geltung kommt, das Angerührtsein von seiner Not und Bedürftigkeit, das Reagieren im Einklang mit seinen Bedürfnissen. Um damit die Gleichnis-Nacherzählung nicht zu überladen, wird das nachfolgend mit zwei Sichtweisen derselben biblischen Vorlage versucht. Das bietet die Gelegenheit, in aller Ruhe der einen Perspektive des Überfallenen und später zu gegebener Zeit der anderen des helfenden Nächsten zu folgen, oder auch umgekehrt. Erzählungen führen die Kinder hautnah an die herausfordernde Situation heran. Wo sich die Kinder wahrscheinlich schnell und selbstverständlich auf die Seite der Helfer schlagen, bietet die Erzählung die Möglichkeit der Verlangsamung, die dazu nötigt, wirklich tief in die Wahrnehmung der Situation, in die Gefühlswelt der Beteiligten und die Art und Weise des Helfens einzutauchen.

Zunächst wird sie aus der Sicht des Überfallenen erzählt. Er braucht dringend Hilfe. Aber von denen er sie am ehesten erwartet, wird er bitter enttäuscht. Und umgekehrt wird ihm der unbekannte Fremde zum unerwarteten Retter. Das lädt dazu ein, sich in den Gefühlen des Hoffens und Bangens, der Enttäuschung und der freudigen Überraschung wieder zu finden. Das fördert die Fähigkeit der Kinder, sich in die Bedürfnisse des Gegenübers hinein zu versetzen.

Die zweite Nacherzählung geht von dem Helfer aus. Er beobachtet das Verhalten der vorausgegangenen Personen, wundert sich über deren Verhalten – und könnte dies gut zur Rechtfertigung für sein eigenes Vorbeigehen nehmen. Aber die wahrgenommene Not des Überfallenen rührt ihn an, zwingt ihn geradezu zur Hilfeleistung. Diese Geschichte lädt dazu ein, sich in widerstreitende Gefühle beim Helfen zu versetzen, sowohl der Verlockung, der Bequemlichkeit und dem Vorbild der anderen zu folgen, aber auch des angerührt Seins von der Not des Überfallenen und der eigenen Zufriedenheit über die gute Tat mit der dankbaren Resonanz des Gegenübers.


Im Wechselbad der Gefühle


Josef hat heute einen langen Tag hinter sich. Schon seit dem frühen Morgen ist er unterwegs. Auf seinem Esel hat er Gewürze, Schafwolle und auch Stoffe hinauf in die große Stadt Jerusalem gebracht und dort verkauft. Das ist sein Beruf. Jede Woche kauft er bei den Bauern, Schafhirten und Handwerkern in den Dörfern die Waren ein, bringt sie in die Stadt, verkauft sie auf dem Markt und kehrt am Abend mit dem Geld, das er für die verkauften Dinge bekommen hat, wieder in sein Dorf zurück.

Auch heute wieder hat er gute Geschäfte gemacht. Die großen Packtaschen auf dem Esel sind leer, aber seine Geldtasche ist gut gefüllt. Mit diesem Ergebnis ist Josef sehr zufrieden und freut sich schon darauf, wenn er dann am Abend die vielen Silbermünzen in seine gut verschließbare Geldtruhe legen kann. Jetzt aber steckt das Geld noch in dem Beutel, den er mit einem Gürtel fest an seinen Körper gebunden hat. Da ist es freilich noch nicht sicher aufbewahrt. Und das macht ihm auch heute wieder Sorgen. Erst vor wenigen Tagen ist einer seiner Freunde genau auf diesem Weg von der Stadt hinunter zu den Dörfern von Räubern überfallen worden. Und je mehr er daran denken muss, desto ungemütlicher und schutzloser fühlt er sich. „Hoffentlich ist die Räuberbande wieder verschwunden“, denkt er sich. Und er treibt seinen Esel an, schneller zu gehen. Denn gerade jetzt ist er an der Stelle, an der der Weg an Höhlen in den Felsen vorbeiführt, in denen sich Räuber gut verstecken können.

Und dann geschieht genau das, vor dem er sich so sehr gefürchtet hat. Bewaffnete Männer versperren ihm plötzlich den Weg, nehmen ihm den Esel weg, suchen nach dem Geld, finden es in den Packtaschen nicht. „Wo hast du dein Geld versteckt?“ rufen sie wütend, schlagen auf ihn ein, reißen ihm die Kleider vom Leib, schnallen den Gürtel ab, nehmen die Münzen an sich. Einer zerrt ihn ins Gebüsch, gibt ihm noch einen Schlag auf den Kopf und sagt: „Damit du nicht auf die Idee kommst, um Hilfe zu schreien!“ Als Josef aus der Betäubung aufwacht, ist er allein. Der Kopf tut ihm weh, und die Wunden von den Schlägen brennen. Er hat Durst, aber auch sein Wasserschlauch ist weg.

Josef horcht, wartet, und dabei denkt er nach: Die Räuber sind weg, die kommen auch heute bestimmt nicht wieder. Jetzt müssten bald andere Menschen hier vorbeikommen, nämlich die letzten Besucher der Stadt, besonders diejenigen, die nach dem Abendgottesdienst im Tempel auf dem Heimweg sind. Bei diesem Gedanken fühlt sich Josef schon ein bisschen wohler. Ja, ein paar Priester und Tempelmusikanten müssen bestimmt noch vorbeikommen, bevor die Nacht einbricht. „Das sind gute Menschen“, denkt Josef, „die werden mir bestimmt helfen“.
Er hört Schritte, erkennt einen Priester an seinem Priestergewand, nimmt alle seine Kraft zusammen und ruft laut um Hilfe. Der Priester kommt näher, Josef freut sich schon. Aber der Priester bleibt nicht stehen, sondern geht weiter. Er geht einfach weiter. „Der muss mich doch gehört haben“, denkt Josef und ist ganz durcheinander vor Enttäuschung. „Das gibt es doch nicht, das darf doch nicht sein! Na ja, es kommen bestimmt auch noch andere!“ Und tatsächlich, bald darauf hört Josef wieder Schritte und erkennt einen Tempelsänger. Wieder ruft er, noch eindringlicher als vorher. Aber auch der geht vorbei. Jetzt ist Josef ganz verwirrt. Und er spürt, wie Verzweiflung in ihm aufsteigt. Sie wird immer schlimmer, weil jetzt niemand mehr kommt und es bald Nacht werden wird. „Wenn mir niemand hilft“, denkt Josef, dann bin ich verloren. Die Nacht halte ich hier nicht aus!“

Da hört er nach langer Zeit wieder Schritte. Josef horcht auf. „Wer mag das wohl noch sein?“ denkt er sich, späht auf den Weg und erkennt einen Mann auf einem Esel, in einem Gewand, wie es die Ausländer aus dem Land Samaria tragen. „Auch das noch“, murmelt er mutlos, „jetzt kommt noch einer von den Ausländern, die wir doch überhaupt nicht mögen, mit denen es dauernd Streit gibt“. Und er traut sich gar nicht, laut genug um Hilfe zu rufen. Doch der Fremde aus Samaria hat ihn trotzdem gesehen und kommt auf ihn zu. Josef weiß gar nicht, was er jetzt erwarten soll. Sucht der nur neuen Streit, oder will er ihm helfen?

Und dann geschieht das Wunderbare. Der Fremde beugt sich zu ihm herunter, redet freundlich und ruhig zu ihm: „Hab keine Angst, ich helfe dir!“ Das tut gut. Josef deutet auf seinen Hals, der Fremde versteht das und gibt ihm zu trinken. Da fühlt Josef sich gleich viel besser. Der Samaritaner verbindet ihm die Wunden, tröstet ihn, und schließlich hebt er ihn auf seinen Esel. „Jetzt wollen wir beide schnell wegkommen von hier!“ sagt er. „Wohin wohl?“ denkt Josef, und der fremde Helfer meint, so als ob er seine Gedanken verstanden hätte: „Ich bringe dich zur nächsten Herberge. Da bist du sicher und wirst gut versorgt“. „Aber ich habe doch überhaupt kein Geld mehr“, jammert Josef. „Ich kann das doch überhaupt nicht bezahlen!“ „Mach dir da keine Sorgen“, antwortet der Helfer, „ich bezahle das. Du kannst so lange dort bleiben, bis du wieder kräftig genug bist, um allein nach Hause zu gehen!“

Josef kommt sich jetzt vor wie in einem wunderbaren Traum. Nun ist alles viel leichter für ihn. In der Herberge sagt der Fremde aus dem Land Samaria dann noch zu ihm: „Ich muss jetzt weiter. Ich wünsche dir gute Besserung!“ – „Warum hast du das für mich getan?“ fragt Josef noch. Der Fremde lächelt ihn an und murmelt etwas vor sich hin, das Josef gar nicht versteht. Aber das macht nichts, denn Josef kann sich schon denken, was er gesagt hat. Er umarmt den Fremden noch in seiner tiefen Dankbarkeit und winkt ihm lange nach, wie er auf seinem Weg weiterreitet, bis er verschwunden ist.


Gesprächsanregungen

  • Was meinst du, was der Fremde auf Josefs Frage geantwortet hat?
  • In dieser Geschichte hat sich Josef mehrmals getäuscht. Da lief es ganz anders, als er sich gedacht hat. Erzähle davon!
  • Was meinst du, was für Josef in dieser Geschichte am schlimmsten und was am angenehmsten war?
  • Wenn einem in Not geholfen wird, ist das etwas Wunderbares. Hast du das auch schon einmal erlebt?

 

„Da kann ich doch nicht vorbeigehen!“

 

Esbaal ist mit seinem Esel auf dem Weg von Jerusalem hinunter nach Jericho. Er hat noch einen weiten Weg vor sich, bis er zu Hause ist. Vorher muss er noch die Grenze überschreiten, denn seine Heimat ist das Nachbarland Samaria. Deswegen hat er es auch eilig. Vor Einbruch der Nacht möchte er in der Stadt Jericho sein. Esbaal ist öfters in Jerusalem. Auf dem Wegabschnitt, den er nun vor sich hat, ist ihm immer etwas unbehaglich zu Mute. Es gibt da so viele Höhlen, in denen sich Räuber verstecken können. Plötzlich stehen sie dann vor einem und rauben einen aus. Von Freunden hat er gehört, dass zur Zeit wieder eine Räuberbande in dieser Gegend ihr Unwesen treibt.

Wo Esbaal gerade reitet, kann er den Weg vor sich noch weit überblicken. Da vorne, da sind die Felsen mit den gefährlichen Höhlen. Zum Glück ist Esbaal nicht allen auf dem Weg. Weit vor sich sieht er einen anderen Eselreiter. Das muss einer der Händler sein, denkt er sich. Für die ist die Gefahr am größten, denn die haben all das Geld bei sich, das sie bei ihren Verkäufen in der Stadt eingenommen haben. In einem größeren Abstand folgen zwei Männer, die er an ihren Kleidern als Priester und Tempelmusiker erkennen kann. Sie kommen gerade von ihrem Gottesdienst im Tempel heim. „Die müssen am wenigsten Angst vor Räubern haben“, denkt sich Esbaal, „die haben mit Sicherheit nicht viel Geld bei sich. Da habe ich schon mehr in der Tasche! Im Ausland muss man ja immer genug Geld dabei haben“. Bei diesem Gedanken wird ihm tatsächlich etwas mulmig zumute. Esbaal geht jetzt zügig voran, er möchte gerne etwas näher bei den anderen sein. Auch wenn die ihn wahrscheinlich nicht besonders mögen, denn zwischen den Leuten aus Samaria und denen in Jerusalem und Juda gibt es immer wieder Ärger und Streit.

Doch jetzt bleibt Esbaal samt seinem Esel plötzlich wie angewurzelt stehen. Ganz vorne, bei dem jüdischen Händler springen Männer zwischen den Felsen hervor, stürzen sich auf den Esel und seinen Reiter, zerren ihn von seinem Reittier herunter, schlagen auf ihn ein, durchwühlen seine Taschen, die der Esel trägt, finden offensichtlich zu wenig, reißen dem Händler die Kleider vom Leib, haben jetzt seine Geldtasche in der Hand, halten sie triumphierend hoch und verschwinden wieder, so schnell, wie sie gekommen sind.

„Das waren sie wieder, diese Räuber“, denkt Esbaal noch voller Schreck und überlegt sich, ob er weitergehen soll. Aber die haben ja jetzt sicherlich genug Beute. Und außerdem möchte Esbaal auch genau sehen, wie die beiden vor ihm, die Leute vom Tempel, mit dem Verletzten zurechtkommen. Vielleicht kann er ihnen ja mit seinem Esel nützlich sein. So reitet er also weiter und beobachtet dabei gespannt, was da vor ihm auf dem Weg geschieht.

Jetzt müsste der Priester bei dem Verletzten sein. Jetzt wird es sich gleich zu ihm hinwenden und sich zu ihm hinunterbeugen. Aber nein, er geht einfach weiter. Was denkt der sich bloß? Ist der sich zu gut zum Helfen? Aber da kommt ja noch der Tempelsänger. Vielleicht haben sich die beiden verständigt, dass der ihm helfen soll. Aber seltsam ist das schon. Und dann kann Esbaal nur noch den Kopf schütteln, denn auch der zweite geht vorüber, so, als ob er nichts gesehen hätte.

Esbaal schaut sich um. Hinter ihm sieht er niemand. „Der Nächste bin jetzt ich“, denkt er sich. „Und wahrscheinlich bin ich auch der Letzte, der hier vorbeikommt. Ich bin jetzt für ihn der einzige Nächste. Und das, weil die anderen, die für den armen Mann dort auch die Nächsten gewesen wären, einfach weitergegangen sind“. So murmelt er vor sich hin. Und er spürt, wie sich auf einmal ein anderer Gedanke in ihm breit macht: Warum soll eigentlich ich ihm helfen? Die anderen waren ihm am nächsten und haben es nicht getan. Könnte ich es nicht genauso machen? Schließlich habe ich noch einen viel weiteren Weg als die anderen vor mir. Und außerdem komme ich aus einem anderen Land, bin ein fremder Ausländer. Bin ich dann überhaupt für ihn der Nächste? Was ist, wenn ich einfach weitergehe, wie es die anderen getan haben?

Aber je näher er dem Überfallenen kommt, desto mehr kommt auch der andere Gedanke wieder zum Vorschein: „Jetzt bin ich für ihn der Nächste, auf den er wartet, und den er dringend braucht! Eine dritte Enttäuschung, die wäre jetzt bestimmt zu viel für ihn. Ich bin jetzt für ihn der wichtigste Nächste. Und so ist er auch für mich der Nächste. Ich kann nicht vorbeigehen, ich muss ihm helfen!“

Und dann ist er bei ihm. Er spürt, wie nah ihm der andere ist, wie gut es war, dass er von seinem Esel abgestiegen ist, sich nun zu ihm beugt und mit ihm spricht. „Wie kann ich dir helfen?“ fragt er, und der andere deutet auf seinen Hals und auf seine Wunden, sprechen kann er vor Erschöpfung nicht. Aber Esbaal versteht ihn. Er gibt ihm zu trinken, reinigt und verbindet die Wunden, hebt ihn auf seinen Esel. Und er nimmt mit Zufriedenheit und Freude wahr, wie es dem anderen nach und nach wieder besser geht. Das Stöhnen vor Schmerz und auch vor Sorge ist vorbei, jetzt reden die beiden miteinander. Esbaal spürt, wie gut es dem anderen tut, dass er bei ihm ist, und das ist auch für ihn angenehm. Er ist sogar ein bisschen stolz auf sich, dass er für den anderen so wichtig geworden ist.

Gemeinsam bereden sie, wie es nun weitergehen kann. „Mach dir keine Sorgen“, sagt Esbaal, „ich bringe dich zur nächsten Herberge. Und ich kann dem Wirt so viel geben, dass du solange dort bleiben kannst, bis du wieder allein nach Hause kommen kannst.

Als die beiden sich dann in der Herberge verabschieden, fragt der Überfallene Esbaal: „Warum hast du das für mich getan?“ Esbaal weiß gar nicht, wie er es sagen soll, er murmelt etwas vor sich hin, aber seine Augen, sein Gesicht und seine Hände bei der abschließenden Umarmung, die sind eine gute Antwort, die der andere versteht.

 

Gesprächsanregungen

  • „Warum hast du das getan?“ hat der Überfallene Esbaal gefragt. Was meinst du, was er geantwortet hat?
  • Die beiden anderen auf dem Weg sind einfach vorbeigegangen. Was meinst du, was die sich gedacht haben?
  • Esbaal hat viel über das Wort „Nächster“ nachgedacht. Was hat er wohl mit diesem Wort gemeint? Was steckt da wohl alles in diesem Wort drin?
  • Esbaal hat einen Moment auch mit dem Gedanken gespielt, einfach weiterzugehen. Kannst du verstehen, warum er das gemacht hat?
  • Als sich Esbaal von dem Überfallenen verabschiedet hat, da her er ein gutes Gefühl gehabt. Was kannst du über dieses Gefühl sagen? Kennst du dieses Gefühl auch?

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