Reise zur romanischen „Himmelsburg“

Vorbemerkungen

Kirchenbauten waren mit ihren unterschiedlichen Baustilen von je her darauf angelegt, Bilder, Vorstellungen und Eindrücke vom Himmel zu vermitteln, etwas vom Himmel auf die Erde zu holen. Die Erkundungsreise dieser Erzählung führt in das Mittelalter, in die Zeit des romanischen Baustils. folgende Ge-schichte erzählt von der Erkundung einer erdachten romanischen Kirche mit typischen „Himmels-burg-Merkmalen“ dieses Baustils, Es geht um eine erdachte Kirche, in der etliche Merkmale der Romanik vorgestellt werden, angeleitet durch die Beobachtungen einer ebenfalls erdachten Pilgergruppe. Die ausgewählten Bilder zeigen Bauelemente unterschiedlicher Kirchengebäude aus der Zeit nach dem Beginn des zweiten Jahrtausends. 

 

Erzählung

Die Männer und Frauen der Pilgergruppe sind schon etliche Tage unterwegs. Ihr Ziel ist eine romanische Kirche. In ihr erwarten sie anschaulich zu Stein gewordene Antworten auf die Frage, wie man sich zur Zeit der Entstehung dieses Bauwerks den Himmel vorstellte, in dem Gott wohnt und die Verstorbenen ihre ewige Heimat finden.

„Es ist nicht mehr weit zu unserem Ziel“ ruft der Priester, der die Gruppe leitet, seinen Begleitern zu. Und tatsächlich, als sie eine Hügelkuppe überqueren, öffnet sich ein weiter Blick auf das Tal vor ihnen, auf die Stadt und mitten in ihr auf die Kirche – ein Bauwerk, das die umliegenden Häuser mächtig überragt. Es ist ein einziges Gebäude und erscheint zugleich wie mehrere zusammenge-fügte Hausbausteine. Auch verschieden hohe und unterschiedlich gestaltete Türme gehören dazu. Das wirkt aus der Entfernung wie eine Burg oder auch wie eine eigene kleine Stadt in der großen.

Die typisch romanische baukastenförmige Anordnung der verschiedenen Bauteile zeigt auch die Michaelskirche in Hildesheim

Zu diesen Eindrücken der Mitreisenden liest der Pfarrer Worte aus den Psalmen der Bibel: „Herzlich lieb habe ich dich, Herr, meine Stärke! Herr, mein Fels, meine Burg, mein Erretter“ (Psalm 18,3).

Die Müdigkeit der Wanderer ist verflogen. Jetzt drängt es alle hin zum Ziel ihrer Reise, zu diesem Kirchenbauwerk mit seinen mächtigen Mauern, das ihnen immer näher rückt. Bei der nächsten Rast liest der Pfarrer wieder einen biblischen Text, diesmal aus der Offenbarung des Johannes mit dessen visionärer Schau des Himmels (Offenbarung 21,1-3) „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen!“ Einer der Reisenden meint nach einer Pause: „Also Hütte würde ich das mächtige Gebäude vor uns nicht nennen. Aber wenn es bei der Hütte um das Behütetsein, um Schutz und Geborgenheit geht, dann passt das schon ganz gut zusammen.“

Endlich sind unsere Wanderer am Ziel angelangt. Zuerst umrunden sie die Kirche, gehen am Mauerwerk mit seinen Ecken und Winkeln entlang, die sich aus den aneinandergefügten Bauteilen er-geben. Sie formen die dicken Quadersteine mit ihren Händen nach und machen sich gegenseitig auf die schmalen Fenster aufmerksam. „Tatsächlich ist dieses Haus wie eine Burg mit dicken Mau-ern“, sagt einer. „Oder wie eine wehrhafte Stadtmauer“, ergänzt ein anderer.

„Schaut mal da oben“, ruft eine Frau und zeigt auf ein Mauerfries, „was sind das für seltsame Figu-ren?“ Beim näheren Hinsehen wirken sie sonderbar und manchmal auch erschreckend. „Was ha-ben die denn an einem Gotteshaus zu suchen?“ Der Priester erklärt: „In der Kirche drin haben sie tatsächlich nichts verloren. Aber außerhalb gehören sie zum Leben dazu.

Teufelsfiguren an einer Säule

Oft sind es quälende Träume in der Nacht, Ängste vor finsteren Gestalten, auch Angst vor dem Teufel und bösen Geistern. Das alles gibt es, und das sollten wir nicht verschweigen.“ „Aber warum hat man solche Figuren in die Kirchenwand gemeißelt,“ fragt jemand. Der Priester antwortet: „Man hat gedacht, wenn diese dunklen Gestalten das sehen, dann sehen sie sich selbst wie in einem Spiegel, bekommen Angst und verschwinden schleunigst.“

Säulenumgang am Mainzer Dom

Nachdem die Pilger noch ein großes Quergemäuer umrundet haben, kommen sie zur östlichen Begrenzung der Kirche. Hier fällt gleich auf, wie sehr an dieser Stelle die Mauer geschmückt ist. Ziersteine sind wie ein Band ins Mauerwerk eingefügt. Auch ein Säulengang gibt ihm ein freundli-ches Aussehen. „Dahinter ist ganz bestimmt der Altar“, sagt jemand. Eine andere Person ergänzt: „Im Osten geht die Sonne auf, von da her kommt das Licht. Und Jesus Christus hat ja von sich selbst gesagt: „Ich bin das Licht der Welt“ (Johannes 8,12). Der Priester nickt zustimmend. „An diesem Ort in der Kirche wird das Wort Gottes verkündet und das Abend-mahl gefeiert. Er zeigt dann nach oben, alle treten zurück und sehen, wie sich hier der breite, kuppelartige Turm erhebt, den sie schon von Weitem gesehen hatten. Säulenumgang am Mainzer Dom

„Jetzt bin ich richtig neugierig, wie es hinter diesen Mauern aussieht,“ sagt jemand. An der Südseite der Kirche gehen sie alle weiter entlang und kommen zur Westseite mit dem Eingang. Über dem Eingangstor ragt der andere, noch viel höhere Turm empor. „Das wirkt ja wie ein Stadttor“, sagt ein anderer. Der Priester nimmt die Bemerkung auf und bestätigt. „Genau, das ist das Tor zur Kirche als Himmelsstadt. Jesus Christus hat auch gesagt: „Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hinein-geht, wird er selig werden“ (Johannes 10,9). Schon wollen einige die schwere Türe öffnen, da ruft sie der Priester zurück: „Halt! Soweit sind wir noch nicht.“ Er spricht zuerst noch einen Psalm (Psalm 15):

„Herr, wer darf weilen in deinem Zelt?
Wer darf wohnen auf deinem heiligen Berg?
Wer untadelig lebt und recht tut
und redet die Wahrheit von Herzen;
wer mit seiner Zunge nicht verleumdet,
wer seinem Nächsten nichts Arges tut
und seinen Nachbarn nicht schmäht; …
Wer das tut, wird nimmermehr wanken.“

Dazu erklärt er: „Vor dem Eintritt in die himmlische Stadt steht das Gericht.“ Schweigen breitet sich unter den Pilgern aus und sie schauen einander betreten an. „Schaut auf das Bild über dem Ein-gangstor!“ spricht der Priester weiter. Und jetzt sehen es alle deutlich: Groß steht der richtende Christus in der Mitte.

Tympanon einer französischen romanischen Kirche

Links von ihm diejenigen, die in die Himmelsstadt einziehen, rechts die anderen, die in die Höllen-finsternis hinabgestoßen werden. „Welcher Mensch ist denn ohne Verfehlungen? Wer darf von uns überhaupt eintreten?“ fragen einige zaghaft. Der Priester antwortet: „Weil Jesus Christus die Tür ist zum Leben und zum Licht, dürfen wir ihn um Vergebung all unserer Versäumnisse bitten. Wenn wir das mit ehrlichem Herzen tun, lädt er uns ein, einzutreten“.

Nachdem die Pilger die Tür hinter sich geschlossen haben, sind sie wie in einer anderen Welt, der „Himmelswelt“. Stille umfängt sie, nur ihre Schritte und leises Flüstern sind hörbar. Aus der Hellig-keit sind sie in einen viel dunkleren Kirchenraum eingetreten. Eine Säulenreihe, die das Mittelschiff von den Seitenschiffen abteilt, öffnet einen Weg nach vorne zur Apsis im Licht wie auf einer uralten Prachtstraße. Der Priester stimmt ein Lied an, die Gruppe nimmt es auf. So ziehen sie singend nach vorne. Sie werfen dabei kurze Blicke in dunklere Nischen, die sich unter den halbrunden Bögen zwischen den Säulen zeigen. Aber immer wieder fängt der durch ein helleres Fenster in Licht ge-tauchte Chor ihre Blicke ein.

Johanniskirche Schwäbisch-Gmünd

Wo Haupt- und Querschiff aufeinander treffen, in der „Vierung“, bleiben sie stehen. Über ihnen hängt ein übergroßer Radleuchter, ein Metallring mit vielen Kerzen, geschmückt mit glänzenden Edelsteinen und zwölf turmartigen Kästchen mit Engelsfiguren darauf.

 Radleuchter der Comburg bei Schwäbisch Hall

Der Priester liest wieder einen Text aus der Offenbarung zum himmlischen Jerusalem (Kapitel 21, 10ff.): „Einer der sieben Engel führte mich im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jeru-salem herniederkommen aus dem Himmel von Gott, …ihr Leuchten war gleich dem alleredelsten Stein, klar wie Kristall; sie hatte eine große und hohe Mauer und hatte zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel.“

Je näher die Pilger zum Altar in der Apsis kommen, umso deutlicher wird das Christusbild an der Wand, das den Chorabschluss bestimmt: Christus, der Herr der Welt. Sie sind am Ziel ihres Weges. Jetzt ist auch Zeit, die Wände der Kirche genauer in den Blick zu nehmen, große glatte Flächen vol-ler farbiger Bilder zu Geschichten aus der Bibel und dem Leben von Heiligen. Der Priester erklärt, wie die Farben auf den Verputz aufgetragen wurden: „Die Künstler konnten nur malen, solange die Wand noch feucht war und mussten deshalb ihre Arbeit klug Stück um Stück planen. Die Bilder, das war die Bibel der Menschen, die das Lesen nicht gelernt hatten“. An der Seite der Vierung führt eine enge Treppe hinunter in die niedrig gewölbte Unterkirche unter dem Chor, die Krypta. Dort sind die Gräber bedeutender Geistlicher. Der Priester erklärt: „Auf diese Weise sind sie bei ihren Nachfolgern, die als Priester die Gottesdienste feiern.“ Dazu finden sich unsere Pilger nun auch ein, zusammen mit anderen Gruppen, die inzwischen in die Kirche eingetreten sind. Dabei ist auch noch Gelegenheit, die Blicke im Raum wandern zu lassen, auch von den Wandbildern zu der wie ein Sternhimmel bemalten Decke.

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