Ernst Barlach - Sein Leben als bildender Künstler

 

Vorüberlegungen

Vor 150 Jahren, im Januar 1870, wurde Ernst Barlach geboren. Schon früh kamen seine künstleri-schen Talente im Zeichnen, plastischen Gestalten und als Dichter zum Vorschein. Aber es dauerte lange, bis er seinen eigenen Stil gefunden hatte, mit dem er dann berühmt geworden ist. Eine Russ-landreise als 36Jähriger brachte ihm den Durchbruch zu dem ihm gemäßen Ausdruck. Der erste Teil der Erzählung ist an dieser Reise angesiedelt – mit erdachten Gesprächen mit seinem mitreisenden Bruder, in denen rückblickend bisherige Stationen in Ernst Barlachs Leben kurz angetippt werden und das seinen eigenen Stil Kennzeichnende vorgestellt wird.

Ernst Barlach war ein Einzelgänger, scheute das gesellschaftliche Leben, war aber zugleich auf die Aufmerksamkeit von kunstverständigen Förderern und Galeristen angewiesen. Nur wenige, aber für seine Lebensphasen wichtige Freund begleiteten ihn in seinem Schaffen sowohl als Bildhauer als auch als Dichter von Dramen, deren Aufführungen zum Teil große Beachtung fanden. Wachsende Berühmtheit sicherte seinen Lebensunterhalt zusammen mit seinem Sohn Klaus und lange Jahre auch mit seiner Mutter. Im Licht der Öffentlichkeit zu stehen, wurde von ihm aber auch als bedrängend erlebt.

Sein wohl bekanntestes Werk wurde der „Schwebende Engel“ im Dom von Güstrow. Neben zwei Plastiken zu biblischen Gestalten sind die Ereignisse um die Entstehung des Engels zum Andenken an die im Ersten Weltkrieg Gefallenen der Schwerpunkt des zweiten Teils der Erzählung. Der historische Hintergrund ist hier die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen mit dem wachsenden Einfluss der Nationalsozialisten, der für Barlachs Person und Wirken zunehmend zur Gefahr wurde. 1937 wurde das „schlimme Jahr“, in dem man nach nur 10jähriger Dauer den „Schwebenden Engel“ aus dem Dom entfernte und schließlich einschmolz. Als Ausblick berichtet die Erzählung, wie es schließlich nach dem Krieg zu einem neuen Guss dieser Plastik und Wiederaufrichtung an ihrem alten Platz kam.

In religiöser Hinsicht war Ernst Barlach kein traditioneller „Kirchenchrist“, sondern einer, der im Sinne der christlichen Mystik eines Meister Eckehardt die Anwesenheit Gottes im eigenen Herzen suchte und das auch in seinen Werken zum Ausdruck brachte.

 

Hinweis zu den in der Erzählung benannten Bildern: Aus urheberrechtlichen Gründen können sie hier nicht abgebildet werden, Aber mit den Suchbegriffe (z.B, Barlach Bettlerin; Barlach Mose usw. können sie auf der entsprechenden Homepage angesehen werden. 

 

Erzählung

Zu Besuch in der Ukraine

Zwei Männer sitzen in einem Abteil des Fernzuges von Berlin Richtung Südosten zusammen. Ihr Reiseziel ist die Stadt Charkow in der damals russischen Ukraine. Der eine ist der Bildhauer und Dichter Ernst Barlach, der andere sein Bruder Nikolaus. Lange haben sie einander nicht mehr gesehen, und so gibt es viel zu erzählen. „Weit hat es uns Geschwister auseinander getrieben“, beginnt Nikolaus eines ihrer Gespräche. Mich hat es nach Nordamerika verschlagen, und unseren Bruder Hans nach Russland. Und du, Ernst, bist mittendrin in Deutschland geblieben, unserer alten Heimat. Ich freue mich schon so sehr auf das Wiedersehen mit Hans. Er hat ja wohl ganz gut Fuß gefasst, als Ingenieur in der großen Industriestadt in der Ukraine – im Gegensatz zu mir in den USA. Aber wie ist es denn eigentlich dir als Künstler ergangen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, beginnt er von früher zu erzählen. „Die Kunst war dir ja wohl schon in die Wiege gelegt. Ich kann mich noch erinnern, wie du in der Schule die Aufgabe bekommen hattest, für ein Spiel Vögelchen aus Ton zu kneten. Das hat dir viel Spaß gemacht“. Ernst erwidert nachdenklich: „Ja, so fing es wohl an“. Nikolaus erzählt weiter: „Und als wir dann später nach Schönberg im Ratzeburger Land umgezogen waren, da hat es dich bald zur der Steinmetzwerkstatt in der Nachbarschaft hingezogen, wo du dich schon mal mit Hammer und Meißel erproben durftest“. Ernst nickt in Gedanken versunken, und Nikolaus stößt ihn an: „He, du, damals warst du auch schon so viel in deine Träumereien versunken. Wenn du mit deinem Kasperletheater immer wieder neue Vorführungen erfunden hast, war mit dir sonst auch nicht viel anzufangen“.

Ernst seufzt, rappelt sich auf und sagt: „Ach, damals hatte ich noch nicht geahnt, wie mühsam mein Weg als Künstler werden wird. 36 Jahre bin ich jetzt schon alt, und genau genommen stehe ich mit meiner Kunst immer noch am Anfang“. Jetzt beginnt er zu erzählen: „In Hamburg, auf der Gewerbeschule sollte ich das genaue Zeichnen erlernen. Es war ein Graus für mich! Nach einer kleinen Pause zieht kurz ein Lächeln über sein Gesicht: „Aber die vielerlei Gestalten, die ich in der Stadt sah, die prägten sich mir ein, die konnte ich zeichnen, nicht für meine Lehrer, sondern für mich alleine – die Fabrikarbeiter und die Straßenkehrer, die Bettler und die Marktfrauen, die Dienstboten und die feinen Herrn und Damen beim Spazieren an der Alster“. Dann lacht er kurz auf und ergänzt: „Und in der Schule habe ich über einhundertfünfzig Arten, Gewandfalten zu zeichnen, lernen müssen. Na ja, das war für mich vielleicht noch das Sinnvollste“. Nikolaus schaut ungläubig, und Ernst erklärt: „Jede Art der Körperfigur und -haltung erzeugt ganz bestimmte Gewandfalten. Viel mehr als der nackte Körper interessiert mich auch heute noch, wie er bekleidet aussieht“. Er macht eine Pause und fügt resigniert noch an: „Na ja, davon kann man allerdings nicht leben. Auf der Kunstakademie in Dresden habe ich es auch nicht lange ausgehalten, und das Jahr in Paris hat mich überhaupt nicht weitergebracht. Vor zehn Jahren war es mir beim Aufenthalt in Friedrichsroda im Harz zu einsam, und als Lehrer in Höhr im Rheinland habe ich vor allem gelernt, dass ich nicht als Lehrer tauge. Und jetzt in Berlin fühle ich mich auch nicht zuhause. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich hingehöre und was ich eigentlich will“.

Viele Stunden später ist der Zug in eine endlos weite Steppenlandschaft eingetaucht. Eintönig und langweilig findet das Nikolaus, aber Ernst blickt aufmerksam, ja sogar gebannt auf die sehr langsam vorbeiziehende Landschaft. „Was gibt es denn da für dich Besonderes zu sehen?“ fragt Nikolaus neugierig, und Ernst antwortet wie von weit her: „Das ist nicht das Eintönige, sondern das Einfache mit seiner Botschaft an uns“. Er wendet sich Nikolaus zu und spricht weiter: „Ich habe bisher immer im Verkünstelten, im Zierrat der Dinge mit ihren vielen Einzelheiten meinen Weg gesucht“. Wieder schaut er durch das Fenster und murmelt: „Im Einfachen sollte ich meine Kunst finden und entdecken, was alles in diesem Schlichten steckt. Was auf den ersten Blick eintönig wirken mag, ist auf den zweiten geheimnisvoll und voller Kraft“. Und mit Nachdruck ergänzt er noch: „Und ich will die Menschen sehen, die in dieser Einfachheit der Natur leben und ihnen mit meinen Augen, meinem Zeichenstift und später mit meinen Händen ihre Geheimnisse entlocken. Nikolaus, ich bin so gespannt auf die Tage und Wochen, die wir in Charkow vor uns haben!“

                                                                                      Bild: Barlach, Bettlerin

Schon in den nächsten Tagen kann er mit seinen aufmerksamen Blicken aus dem Vollen schöpfen und hält das mit seinem ersten und auch zweiten Blick Gesehene in seinen Zeichnungen fest. Er sieht die Bettlerin mit ihrem demütig zusammengekrümmten Körper und in sich hineingeduckten Blick und zugleich den fordernd weit nach vorne gestreckten Arm mit der Schale für die Spenden. Und mit seinem inneren Ohr hört er ihre Worte: „Ich mag wohl gering und verachtenswert für euch sein, aber ich bin genauso wichtig wie ihr, denn ich halte euch den Ursprung des Lebens, nämlich das Überleben vor Augen. ‚Ich bin da, um euch an Jesu Worte zu erinnern: Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan!‘“

An einem anderen Tag führt ihn ein Pferdekutscher hinaus aus der Stadt auf das flache Land, das Ernst wieder tief in sich aufnimmt. „Halt an!“ ruft er plötzlich dem Kutscher zu. Am Wegrand steht eine Figur mit großem Kopf, die Arme eng an dem Körper und am vorspringenden Bauch gefaltet. „Was ist das?“ fragt er verwundert den Kutscher. Der antwortet: „Das sind Gestalten, die unsere Vorfahren in grauer Vorzeit gemacht haben. Wir nennen sie die Balabanows“. Immer wieder tauchen solche Figuren auf. Am Wegrand stehen sie wie Bettler; einer liegt da wie ein Betrunkener. Ernst murmelt vor sich hin: „Da ist es wieder, das Einfache, Ungekünstelte in all seiner Kraft und Lebendigkeit. Das soll auch meine Weise sein, in all dem, was ich sehe, das Einfache mit der Kraft, die in ihm steckt, mit meinen Händen zu formen“. Und lautlos jubelt er in sich hinein: „Jetzt habe ich endlich ein Ziel vor mir und in mir!“

In Güstrow

Etliche Jahre später begegnen wir Ernst Barlach in seiner Künstlerwerkstatt, seinem Atelier in der Stadt Güstrow in Mecklenburg. Dort lebt er mit seiner Mutter und seinem kleinen Sohn Klaus. Inzwischen ist er zu einem bekannten Bildhauer und auch Dichter geworden. Aber so richtig zuhause fühlt er sich in Güstrow auch nicht. Er sollte wohl eher in Berlin sein, um möglichst viele Begegnungen mit anderen Künstlern und Kunsthändlern zu haben. Aber er scheut das Zusammensein mit vielen anderen. Bei seiner Arbeit wandern die Gedanken zurück zu den schlimmen Jahren des Ersten Weltkriegs. Wenn er daran denkt, dass auch er den Kriegsbeginn begeistert begrüßt hatte, schämt er sich. Als ihm dann der sinnlose Tod unzähliger Menschen und das Leid und Elend, der Hunger und die Not so Vieler bewusst geworden waren, wurde er zum entschiedenen Kriegsgegner. Er ärgert sich über die Personen, die nach Schuldigen für den verlorenen Krieg bei den Siegermächten suchen und von einem Rachefeldzug gegen sie träumen. „Ach, die Welt ist in so große Unordnung geraten“, murmelt er vor sich hin. Wir brauchen dringend gute Regeln für das Weiterleben im Frieden und ein Umdenken in den Köpfen so vieler. Wie gerne möchte ich mit meinen Skulpturen etwas dazu beitragen!“

Durch ein Klopfen an seiner Tür wird er aus seinen Gedanken gerissen. Er schaut auf seine Uhr. Richtig, zu diesem Zeitpunkt hat sich ja der junge neue Pfarrer Schwartzkopff zu einem Besuch angesagt. Es ist noch nicht lange her, seit er seinen Dienst an der Güstrower Domgemeinde angetreten hat. In der Bahnhofsgaststätte von Güstrow haben sie sich kennengelernt. Er war öfters dort zum Leben und Beobachten der Menschen, so wie er es seit jeher getan hat. Und der Pfarrer kehrte auch oft ein, um auch auf diese Weise etwas über seine Gemeinde zu erfahren. So kamen die beiden ins Gespräch. Barlach, der sich sonst möglichen Besuchern gegenüber ziemlich abweisend verhält, hat der Bitte, ihn besuchen zu dürfen gerne entsprochen.

                                                                                            Bild: Barlach, Moses

So stehen die beiden jetzt vor Kunstwerken, die noch im Besitz des Meisters sind. Als erstes fällt der Blick des Pfarrers auf etwas, das zuerst von weiter her wie ein schräg gekipptes Holzscheit aussieht. Er tritt näher und erkennt eine hoch aufragende bärtige Gestalt. Es ist Mose, der in seinen Händen zwei oben gerundete Tafeln fest an seinen Körper gedrückt hält, die Tafeln der Zehn Gebote mit den göttlichen Weisungen für das Zusammenleben seines Volks. Mit erhobenem Haupt blickt Mose himmelwärts, von dort fällt der Lichtschein sowohl auf Moses Gesicht wie auf die beiden Tafeln.

„Mit der ihm von Gott gegebenen Autorität steht er da“, sagt der Pfarrer nachdenklich. Er ist mit Gott verbunden und steht zugleich fest auf dem Boden. Das göttliche Gesetz der Gebote soll für alle gleichermaßen gelten – mit seinem Ziel, Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen zu schaffen“. Der Künstler hört aufmerksam zu und ergänzt noch: „Das ist meine Botschaft gegen alle diejenigen, die sich von Rachegefühlen leiten lassen, die von dem schlimmen Krieg noch nicht genug haben und blind sind für die zerstörerische Kraft ihrer Machtgelüste“. Barlach spürt, dass ihn viel mit dem jungen Pfarrer verbindet.

                                                                                       Bild: Balach Das Wiedersehen 

Dessen Blicke lösen sich von der eindrücklichen Mose-Figur und wenden sich einer anderen Skulptur zu. „Die ist erst vor wenigen Tagen fertig geworden“, erklärt der Bildhauer. „Ich habe sie ‚Das Wiedersehen‘ genannt“. Der Pfarrer erwidert: „Sie erinnert mit an die im Johannesevangelium berichtete Begegnung des zweifelnden Thomas mit dem Auferstandenen“. Ernst Barlach nickt stumm und ist bereit, die Gedanken des Geistlichen auch zu diesen beiden Gestalten zu hören. „Die beiden Personen wirken auf mich so gegensätzlich“, beginnt der. „Links die aufrechte Haltung und die fast unbeteiligt wirkenden, auf Thomas herabblickenden Augen; Hände, die ihn eher von sich wegzuschieben scheinen als ihn freudig in die Arme zu nehmen, wie es der Vater bei der Ankunft des verlorenen Sohnes im dem bekannten Gleichnis von Jesus getan hat. Dagegen Thomas, der an Jesu Schultern Halt sucht, mit seinem Gesicht zwar ganz nahe bei seinem Gegenüber ist, aber eher suchend als findend in Blickkontakt mit dem auferstandenen Christus tritt. Er will den Beweis haben, ob das Gegenüber wirklich sein Jesus ist, er sucht ihn in dieser Begegnung mit ihm, darf ihn sogar mit den Händen fassen und muss doch zugleich die fremde Andersartigkeit des Auferstandenen hinnehmen. Dieser Thomas bleibt der Fragende und Suchende, auch wenn ihm der Christus schon so nahe ist“. Barlach antwortet nach einer Pause nur mit einem kurzen Satz: „Auch ich bin viel mehr bei den Suchenden als bei denen, die meinen, alle Antworten finden zu können oder gar schon zu kennen“.

Der Bildhauer spürt, dass Pfarrer Schwartzkopff mit ihm auch noch über etwas anderes reden will und lädt ihn zum weiteren Gespräch in sein Wohnzimmer ein. Dankbar nimmt der Pfarrer das Angebot auf und erläutert sein Anliegen: „Unserer Domgemeinde steht das Fest der Weihe der Kirche vor 700 Jahren ins Haus. Wir vom Kirchengemeinderat nehmen dies als Anlass, ein Erinnerungsmal für die im Krieg Verstorbenen aufzustellen. Das könnte bei der Friedenseiche neben der Kirche seinen Platz finden. Denn von ihm soll eine Botschaft des Friedens ausgehen. Wir würden Sie sehr gerne dafür gewinnen“. Er macht eine Pause und fügt dann noch an: „Und wir hoffen zugleich, dass das auch im Rahmen unserer begrenzten finanziellen Möglichkeiten geschehen kann“. So, jetzt hat der sein Anliegen vorgebracht, wartet auf Barlachs Antwort und ist erfreut, als der zustimmt.

Jetzt kreisen Barlachs Gedanken viel um dieses Vorhaben. In seinen Begegnungen mit Pfarrer Schwartzkopff geht es immer wieder um die Gestaltung dieses Denkmals. Einig sind sich die beiden, dass es keinesfalls um eine Verherrlichung eines ehrenvollen Todes der für das Vaterland im Krieg Gefallenen gehen darf. Es darf keine Unterstützung derer sein, die sich mit der Sinnlosigkeit dieses Krieges nicht abfinden können und stattdessen von neuen siegreichen Kämpfen träumen. Barlach sucht Anregungen in der großen Sammlung seiner Zeichnungen aus vielen zurückliegenden Jahren und stößt dabei auf das Bild eines schwebenden Engels. „Das muss es sein“, murmelt er, „ein ernster und mahnender Friedensbote“. Als er sich wieder mit dem Pfarrer trifft, erläutert er ihm seinen Plan: „Der Friedensbote schwebt zwischen Himmel und Erde. Bei uns auf der Erde müssen wir ihn so oft vermissen. Aber er ist da, mit seiner Mahnung und mit seinem Zuspruch“. Dann gewährt er Schwartzkopff einen Einblick in seine Kohlezeichnung. Ein Engel ist es, der seine Hände dicht am Körper und auf seine Brust gezogen hat. Er weiß nicht, dass beim Künstler dabei Erinnerungen an seine Russlandreise mitschwingen. Es geht in den Gesprächen auch um organisatorische Fragen. Barlach besteht darauf, dass der Engel seinen Platz nicht außerhalb des Kirchenraums, sondern im Dom selbst finden wird. Dafür ist er bereit, auf eine Vergütung seiner eigenen Arbeit zu verzichten. Die Gemeinde müsste dann nur noch für die Kosten des Bronzegusses, des Transports und damit Zusammenhängendem aufkommen. Schwartzkopff ist hoch zufrieden.

                                                                                       Bild: Barlach Schwebender Engel

Barlachs Arbeit am Gipsmodell, nach dem seine Engelsfigur in Metall gegossen werden wird, geht gut voran. Auch sie wird das Ergebnis seines Ringens um seine ganz persönliche Ausdruckskraft sein: die Schwere eines gewichtigen Körpers in der Spannung zur geheimnisvollen Leichtigkeit seines Schwebens; die Schlichtheit des Körpers in seinen Gewandfalten mit dem die Betrachter in seinen Bann ziehenden eindringlichen Ernst, den das Gesicht des Boten ausstrahlt.

Doch während dieser Friedensbote in seinem Atelier Gestalt gewinnt, ziehen draußen dunkle Wolken auf. Es sind die zunehmenden Stimmen derer, die auf eine Heldenverehrung im Denkmal pochen. Ein schwebend mahnender Engel passt da überhaupt nicht dazu. Ihre Stimmen dringen auch in die kirchlichen Kreise hinein. Die dort Verantwortlichen lassen sich verunsichern, scheuen vor der Vollendung des Projekts zurück. Doch Pfarrer Schwartzkopff steht unbeirrt zum Vorhaben und übernimmt für es die Verantwortung. Und so findet der Engel im Jahr 1927 seinen Platz in der Gertrudenkapelle des Doms. Seine geschlossenen Augen sind Zeichen der Trauer angesichts geschehenen Unheils und Mahnung vor kommendem.

Sein schwebender Engel hat Barlach ein neues Gefühl von Heimat in dieser Stadt geschenkt. Er muss in dem folgenden Jahrzehnt erleben, wie es auch zu anderen von ihm gestalteten Gedächtnisskulpturen in Hamburg, Kiel, Magdeburg zunehmende Missfallensäußerungen gibt: Sie sollen aus dem öffentlichen Raum verschwinden. Solche Stimmen werden mit dem zunehmenden Einfluss nationalsozialistischen Gedankenguts immer lauter. Und dann muss Barlach erfahren, dass diese Kunstwerke abgebaut werden, in Lagerräumen verschwinden oder gleich zerstört werden. In seinem letzten Lebensjahr 1937 ist es dann auch in Güstrow soweit. Der Engel wird in einer Nacht im August abgenommen, in einer Kiste verpackt und ins Landeskirchenarchiv in Schwerin gebracht. Alle Bemühungen, ihn vor dem Einschmelzen zu bewahren, scheitern.

 

Zurück zu: Geschichte des Monats