Giovanni Pierluigi da Palestrina
Vorinformationen

Mit der Reformation entwickelte sich auch die Kirchenmusik in römisch-katholischer und evangelischer Tradition auf unterschiedliche Weise weiter. Während der reformatorische Gottesdienst von den Liedern der singenden Gemeinde und mehrstimmigen Vertonungen biblischer Texte – das ‚Ordinarium‘ bestimmt wurde, war es in der katholischen Messe der regelmäßig wiederkehrende Kernbestand von Kyrie und Gloria, nizänischem Glaubensbekenntnis, das ‚Heilig heilig‘ und es umgebende Texte bei der Vorbereitung auf die Eucharistie, das Abendmahl, der Friedenswunsch. Der bestimmt – in deutscher Sprache – zwar auch den lutherischen Gottesdienstverlauf, aber in der katholischen Tradition wurde er in seinen lateinischen Worten auf vielfältige Weise musikalisch entfaltet.

Nach den reformatorischen Umbrüchen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war es Aufgabe des Konzils von Trient, anstehende Reformen im römisch-katholischen Bereich in die Wege zu leiten. Das betraf auch die Kirchenmusik. Die Vertonungen des ‚Ordinarium‘ sollten nicht zur Spielwiese der Komponisten mit ihren je neuen Ideen werden, sondern in klar verständlichen Worten und schlichten, zugleich erhebenden Formen dem gottesdienstlichen Geschehen dienen. Eine Gruppe von Kardinälen forderte deshalb die Rückkehr zu den altehrwürdigen einstimmigen Melodien im Sinne des gregorianischen Chorals. Andere wollten dem inzwischen weit verbreiteten mehrstimmigen Gesang Raum geben. In Kompositionen von Giovanni Pierluigi da Palestrina fanden die Mehrheit beeindruckende und überzeugende Beispiele einer Mehrstimmigkeit, die den Erwartungen entsprach. Bis in die Barockzeit hinein wurde diese Musik zum Maßstab der geforderten Messe-Vertonungen. Savon erzählt die folgende Geschichte.

 

Erzählung

Es ist ein Oktobermorgen im Jahr 1537. Gerade ist der zwölfjährige Giovanni Pierluigi von den Geräuschen anderer Kinder um ihn herum aufgewacht. Aber es sind nicht seine eigenen Geschwister, sondern die anderen Jungen der Capella Liberiana von der berühmten großen Kirche Santa Maria Maggiore in Rom. In seinen Träumen war er noch zuhause gewesen in seiner Heimatstadt Palestrina, etwa 30 km von Rom entfernt, mit der viel kleineren Bischofskirche und dem dortigen Knabenchor, der zu seiner musikalischen Heimat geworden war. Aber seit dem Tod der Mutter vor einem Jahr wurde vieles anders. Als ältester Sohn musste er seine Familie verlassen und hat hier in Rom einen neuen Platz gefunden. Vieles ist für ihn noch fremd. Aber gegen aufkommendes Heimweh hilft ihm zweierlei: Zum einen ist es seine Freude an der Musik. Schon in Palestrina war er wegen seiner musikalischen Fähigkeiten über die eigene Pfarrei hinaus bekannt geworden; neben dem sicheren Singen auch im Orgelspiel gut vorangekommen. Auch schon zum Komponieren hat er einiges bei seinem Musiklehrer gelernt. Der hatte seinem Vater schon einmal erfreut zugeraunt: „Aus diesem Jungen wird bestimmt noch ein sehr bedeutender Musiker!“ Hier in Rom öffnet sich nun ein weiteres Tor zur Musik. Das andere ist sein Bischof von Palestrina, Andrea della Valle, der Kardinal in Rom geworden ist und zugleich dieser Kirche Santa Maria Maggiore. Der hatte ihn sogar bei einem Besuch des Singchors wiedererkannt.

Giovanni freut sich auf das Singen und auch auf all das, was der Kapellmeister dazu erklärt. Heute geht es in der Lehrstunde um die von verschiedenen Seiten geforderte Reform der Kirchenmusik. Giovanni erfährt, dass ein Konzil. Also eine Versammlung der wichtigsten leitenden Personen der Kirche und des Staates, also der Bischöfe und Fürsten nun immer näher rückt. In ihm soll es auch um die gottesdienstliche Musik gehen. Der Kapellmeister erklärt: „Die von Deutschland und der Schweiz ausgegangene Reformation drängt auch uns, die Mitglieder der römischen Tradition, über Reformen nachzudenken, ohne uns dabei von dem zu trennen, was uns bisher lieb und wert war. Dazu gehört auch der Gesang. Der wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten immer mehr zu einer kunstvollen Mehrstimmigkeit. Die Komponisten und die Sänger zeigen dabei ihre besonderen Fähigkeiten, die einzelnen Stimmen beeindruckend zu entfalten und sie zugleich geschickt ineinander zu verweben. Das bringt zwar viel Kunstgenuss, aber auch zwei große Probleme mit sich: Zum einen wird zu sehr verdunkelt, dass es im Lobe Gottes nicht um die eigene Sängerehre geht, sondern um den demütigen Dienst in den Gottesdiensten, der die Herzen aller Gläubigen zu Gott hin richten soll. Zum anderen werden mit dem Ineinander der Stimmen die gesungenen Worte immer unverständlicher. Das soll nicht sein“.

Giovanni meldet sich mit einer Frage: „Aber die meisten Gottesdienstbesucher verstehen doch gar kein Latein, der Kirchensprache, in der wir unsere Gesänge darbieten!“ Andere lachen und er erschrickt: War das zu vorlaut, was er da gerade eingewendet hat? Aber der Kapellmeister nimmt die Frage gerne auf: „Aber sie verstehen gut, was sich mit einzelnen Worten verbindet, dass zum Beispiel Deus das Wort für Gott ist, sanctus für heilig, Pax für Frieden und so weiter. Und gerade die sollen so deutlich wie möglich zu hören und zu erkennen sein. Viele unserer Kirchenoberen fordern deshalb die Rückkehr zu den einstimmigen Gesängen, so wie sie vor allem die Mönche in ihren gemeinsamen Gebetszeiten singen“. „Ach, das wäre uns zu langweilig“, hört man einige der Chormitglieder murmeln. Auch darauf antwortet der Musiklehrer mit einer Erklärung: „Deshalb lasst uns alle miteinander kräftig daran arbeiten, dass wir mit unserer mehrstimmigen Musik die genannten Vorwürfe vermeiden, also mit einem klar verständlichen Gesang, in dem sich alle als Teil einer Dienstgemeinschaft zur Ehre Gottes verstehen“. Später nimmt der Kapellmeister noch Giovanni zur Seite und sagt: „Mit deinen Übungen zum mehrstimmigen Komponieren, hast du dir schon manches erdacht, was genau zu unserem Auftrag gehört. Das zeigt mir, dass du genau verstanden hast, worum es da geht. Solche Musik werden wir in der kommenden Zeit mehr denn je brauchen“.

Zwölf Jahre später finden wir Giovanni Pierluigi wieder in seiner Heimatstadt Palestrina. Jetzt ist er dort selbst Kapellmeister, spielt die Orgel, unterrichtet Jungen des Chors, auch Priester im Kirchengesang. Er hat inzwischen geheiratet und schon einen Sohn. Aufmerksam hat er seither verfolgt, wie das schon vor Langem angekündigte Konzil eröffnet, dann wieder verschoben und schließlich kurz vor Weihnachten 1545 erneut begonnen, nach Bologna verlegt und erneut ausgesetzt wurde. Aber die Forderungen nach einer Reform der römisch-katholischen Kirchenmusik gingen weiter. Konferenzen in den Bistümern, sogenannte Diözesansynoden, formulierten ihre Erwartungen an diese Reformbestrebungen.
Zur Zeit sind die Blicke allerdings wieder auf Rom gerichtet. Die Versammlung der Kardinäle, das Konklave wählt einen neuen Papst. Als Giovanni das Ergebnis hört, eilt er sofort nach Hause, um seiner Frau zu berichten: „Stell dir vor, unser Bischof von Palestrina ist zum Papst gewählt worden. Julius III. nennt er sich jetzt. Damit haben wir ein Kirchenoberhaupt, das es gut mit der Kirchenmusik meint, auch mit den geplanten Reformen, und außerdem kennen wir ihn ja schon ganz gut!“ Lucrezia meint dazu: „So gut, wie du hier in Palestrina mit ihm zusammengearbeitet hast, kann das gerne auch in Rom sein“. Sie ahnt noch nicht, wie das schon bald Wirklichkeit werden wird.

Zunächst aber steht den beiden eine heftige Enttäuschung bevor. Der neue Bischof in Palestrina ist an keiner Zusammenarbeit mit Giovanni Pierluigi interessiert und entlässt ihn in die Arbeitslosigkeit. Dafür tritt der neue Papst in Erscheinung, beruft ihn als Kapellmeister von einem der Chöre in St. Peter, dann auch zum Mitglied des päpstlichen Coro Pontifico. Wie gut Giovanni die Beziehung zu Julius III. tut, zeigt er ihm, indem er sein erstes gedrucktes Notenbuch für die Messgottesdienste ihm widmet. Allerdings endet diese Zeit viel zu früh mit dem Tod des Papstes. Das gilt auch für die Zeit des Nachfolgers Marcellus II., der ebenso ein Förderer der Kirchenmusik mit großem Interesse an ihrer Erneuerung ist.

Dunkle Wolken ziehen über den Zukunftsaussichten der Familie Pierluigi auf, als der nächste Papst Paul IV. ganz andere Reformideen durchsetzt. Alle verheirateten Sänger werden aus der päpstlichen Kapelle entlassen, auch Giovanni Pierluigi. Auch dessen neue Stelle in Rom ist nur von kurzer Dauer. Dann muss Giovanni den Tod seines Vaters erleben. Endlich tut sich ein Lichtblick auf, als er 1561 Kapellmeister an St. Maria Maggiore wird, also dort, wo sein verheißungsvoller musikalischer Weg in Rom begann.
Trotz der mehrfachen Unterbrechungen schreiten die Reformpläne des Konzils voran. Giovanni verfolgt sie aufmerksam, wann immer die Berichte aus Trient in Rom eintreffen. Unruhig wird er allerdings, als er von einer Vorlage erfährt, die den Ausschluss aller mehrstimmigen Musik aus dem Gottesdienst fordert. Nur der einstimmige gregorianische Choral soll zugelassen bleiben. Im Gespräch mit Freunden, Mitgliedern in der Kapelle, erinnert sich Giovanni an seine Anfänge hier, als er zum ersten Mal von dieser Auseinandersetzung hörte und auch seine eigenen Kompositionsversuche als Jugendlicher machte. „Das ist nun schon über dreißig Jahre her“, sagt er nachdenklich. Ein anderer der Sänger ergänzt:„Und inzwischen habt Ihr Euch immer weiter in die Aufgabe vertieft, Gesänge zu komponieren, die in ihrer Mehrstimmigkeit Wohlklänge für die Ohren sind, die gesungenen Worte deutlich erkennbar machen und zugleich mit der Bewegung der einzelnen Stimmen dem Ganzen Leben einhauchen“. Giovanni erklärt dazu: „Es ist eigentlich gar nicht so schwer. Harmonische Dreiklänge sind wie die tragenden Säulen. Auf ihnen ruhen auch die wichtigen Worte. Und dann gleiten die verschiedenen Melodiestimmen zwischen diesen Säulen dahin und lösen deren einzelne Stellung in ihre Bewegungen auf“. „Ach“, fügt ein Weiterer hinzu, „das müsste doch denen einleuchten, die in Trient darüber zu entscheiden haben!“ „Mehr als dem Papst ein Notenbuch zu widmen, kann ich nicht tun“, antwortet Giovanni etwas ratlos. Er ahnt noch nicht, dass in Trient gerade das geschieht, was sich die Freunde in Rom wünschen.

Einige Tage später meldet sich einer der päpstlichen Beauftragten, die zwischen Trient und Rom hin und her eilen, um die neuesten Nachrichten weiterzureichen, bei Giovanni Pierluigi und hat Folgendes zu berichten: „Eine einflussreiche Gruppe der Konzilsmitglieder hat zum Beschluss aufgefordert, für den römisch-katholischen Messgottesdienst endlich nur noch den einstimmigen gregorianischen Choral zuzulassen. Die Gegenseite unter Leitung von Kardinal Rodolfo Pio Carpi hat Mühe, diese Entscheidung abzuwenden. Sie sucht emsig nach gelungenen Beispielen für mehrstimmige Vertonungen, die den ja schon reichlich lange bekannten Anforderungen entsprechen, um damit die Vertreter der Einstimmigkeit zu überzeugen.“ Giovanni hört gespannt zu. Am liebsten würde er den Boten zu dem Schrank schleppen, in dem etliche seiner inzwischen entstandenen Chornoten liegen. Aber er zwingt sich, weiter auf die Worte seines Besuchers zu achten. Der fährt fort: „Bei der Sichtung von Notenbüchern und –blättern überall im Land sind in München Beauftragte des Kardinals von Waldburg auf eine Komposition von Euch gestoßen, die wohl als Kopie im Zuge des Austauschs von Kompositionen zwischen Rom und München dorthin gelangt ist. Es ist die Messe ‚Benedicta es‘, ein meisterhaftes Beispiel für gelungene Mehrstimmigkeit im Gottesdienst. Kardinal Carpi erbittet von Euch eine weitere Komposition in diesem Sinne, um den Antrag der Gruppe auf eine noch breitere und überzeugendere Basis zu stellen“.

Vor Überraschung ist Giovanni zuerst sprachlos. Dann erklärt er freudig seine Bereitschaft. Seine Frau Lucrezia meint dazu: „Das ist doch genau das, wovon ihr in eurem Freundeskreis immer wieder gesprochen habt!“ Ohne Zögern macht sich Giovanni an die Arbeit. In Trient stellt sich dann auch der gewünschte Erfolg ein. „Diese Komposition soll fortan der Maßstab für unsere Kirchenmusik sein“, heißt es.
Giovanni hat auch weiterhin viel zu tun. Immer mehr Beispiele für diesen neuen Musikstil werden bei ihm in Auftrag gegeben. Ein Buch mit vierstimmigen Vertonungen widmet er Kardinal Rodolfo Pio Carpi, der den Weg zu ihm geebnet hat. Als Lucrezia ihn fragt: „Wem willst du eigentlich die Messe widmen, die du in aller Eile nach Trient gesandt hast?“ denkt Giovanni laut nach und antwortet dann: „Mein erstes Notenbuch habe ich Papst Julius aus Palestrina gewidmet, der mir in Rom wichtige Türen geöffnet hat. Sein Nachfolger Marcellus war genauso freundlich der Kirchenmusik und auch mir zugewandt. Wegen seiner viel zu kurzen Amtszeit und weil auf ihr noch dazu der Schatten des so ganz anders gesinnten Nachfolgers Paul IV. liegt, will ich ihm die Messe widmen, mit der unsere Kirchenmusik eine neue Basis gefunden hat. Ich will sie Missa Papae Marcelli nennen“.

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