Entdeckungsreise zum Lied „Ihr Kinderlein, kommet“


Vorüberlegungen
Zu den bekanntesten Weihnachtsliedern gehört zweifellos „Ihr Kinderlein, kommet“. Den Text hat der Pfarrer und spätere Prälat in Augsburg, Christoph von Schmid verfasst. Er war einer der bekanntesten Schriftsteller und Dichter seiner Zeit. Seine in etlichen Bänden erschienenen biblischen Erzählungen waren weit verbreitet. Es war unter literarischen und philosophischen Geistesgrößen seiner Zeit geachtet. Über die Entstehung seines Weihnachtskinderlieds aber ist in seinen Aufzeichnungen nichts zu finden.

Die Entstehung der Melodie führt uns zu Johann Abraham Peter Schulz, der damals Musikdirektor am dänischen Hof war, bekannt als Opernkomponist und auch als Schöpfer von einfachen, gut zu singenden Melodien, etwa auch der Melodie zu „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius. Seine uns heute vertraute Melodie des Weihnachtslieds ordnete er damals allerdings einem anderen Text zu.
Wenn wir der Frage nachgehen, wie Text und Melodie zu der uns heute geläufigen Form zusammenfanden, führt uns die Spur nach Gütersloh zum evangelischen Lehrer und Organist Friedrich Hermann Eickhoff und dem ihm befreundeten Pfarrer Johann Heinrich Volkening sowie den von ihnen veröffentlichten Liedersammlungen, in denen „Ihr Kinderlein kommet“ seinen festen Platz bekam.

Für die Erzählung legt es sich nahe, diesen Entstehungsweg des Liedes an den drei verschiedenen Schauplätzen zu verfolgen. Die werden durch ein Kinder-Forscherteam miteinander verbunden, das sich mit einer Zauberkugel und der Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, an jeden gewünschten Ort in der Vergangenheit versetzen kann.

 

Erzählung

Wir – unsere Namen müssen wir aus Sicherheitsgründen geheim halten - sind einige Kinder, die als Forscher und Entdecker wichtige Aufgaben erfüllen. Dabei hilft uns eine Zauberkugel. Sie versorgt uns mit wichtigen Nachrichten, die wir auf ihr lesen können. Umgekehrt schreiben wir auf sie, wenn wir einen guten Rat brauchen. Aber das Wichtigste ist: Mit der Zauberkugel ist es für uns ein Leichtes, uns auf geheimnisvolle Weise an jeden Ort und an jeden Tag in der Vergangenheit zu versetzen. Dazu kommt, dass wir uns auch unsichtbar machen können, um andere zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Wir können hören, was Personen reden und uns genau umsehen. Nur sprechen dürfen wir mit den Personen der Vergangenheit nicht. Wir müssen auch darauf achten, dass wir ihnen nicht zu nahe kommen. Denn wenn sie uns festhalten würden, hätten wir keine Möglichkeit mehr, in unserer Gegenwart zurückkehren.

Gerade haben wir auf unserer Zauberkugel einen neuen Auftrag gelesen: „Findet heraus, wie das bekannte Lied „Ihr Kinderlein kommet“ entstanden und warum es zu dem beliebtesten Weihnachtslied geworden ist“. Jetzt in der Adventszeit ist das eine Aufgabe, die uns bestimmt Freude macht. Gespannt warten wir noch auf eine Nachricht, die uns auf den Weg schickt. Die Kugel leuchtet auf und schon können wir lesen: „Geht im Frühling des Jahres 1794 nach Kopenhagen, der Hauptstadt Dänemarks. Besucht das königliche Schloss und seht euch dort um!“ Wir schauen uns verwundert an: „Was soll das mit unserem Weihnachtslied zu tun haben?“ Na gut, wir versuchen es trotzdem. Mit dem Befehl an die Kugel sind wir im Nu dort. Wir gehen aufmerksam durch die langen Gänge, spitzen in den einen oder anderen Saal hinein. Wir sehen an den Wänden Gemälde mit den früheren Herrschern und wundern uns über die Perücken, die sie tragen und die seltsamen Gewänder. Die sind so ganz anders als die Kleider heute.

Es ist Mittagszeit, wir begegnen fast niemandem. Wo sollen wir anfangen zu forschen? In der Schlossbücherei versuchen wir unser Glück, blättern auch in einigen Liederbüchern, die wir finden. Von unserem Lied aber ist nichts zu entdecken. Dann hören wir Stimmen. Zwei Herren treten ein. Ihre vornehmen Gewänder sind wie die auf den Bildern. Sie zeigen uns, dass sie wichtige Persönlichkeiten sein müssen. Vielleicht erfahren wir von ihnen etwas, das uns weiterhilft. „Maestro“, redet der eine seinen Begleiter an, „wir genießen Eure Arbeit als Musikdirektor in unserem königlichen Haus in höchstem Maße. Ich freue mich auf jede neue Oper von Euch mit den herrlichen Gesängen der wunderbaren Stimmen. Ich kann nicht genug davon haben“.

Wir wollen verschwinden, denn das bringt uns ganz bestimmt nicht weiter - hören aber gerade noch, wie der Herr weiterredet: „Aber Maestro, ich habe vernehmen müssen, dass Ihr Eure hohen musikalischen Fähigkeiten jetzt einem anderen Feld zuwenden wollt, nämlich dem ganz einfacher und für jedermann angenehm zu singenden Lieder. Ist das nicht Verrat an der hohen Kunst?“ Jetzt sind wir wieder hellhörig. „Mitnichten“, antwortet der Musikus. „Auch einfache Lieder können wundervolle Melodien haben. Solche Liedmelodien zu erfinden, die gut ins Ohr gehen und im Herzen verweilen, das ist auch hohe Kunst!“ Wir sind neugierig. Vielleicht hat uns die Zauberkugel zuerst zur Entstehung der Melodie unseres Weihnachtsliedes geführt.

„Kommt mit in mein Musikzimmer!“ sagt der Musikdirektor, „ich zeige Euch, was dazu in letzter Zeit entstanden ist“. Auf dem Weg dorthin summt er eine Melodie, die unsere Herzen höher schlagen lässt. Es ist genau die unseres Weihnachtslieds. Wir bewegen uns unsichtbar mit den beiden vorsichtig im Raum, damit wir an niemand anstoßen. Wir spitzen auch auf Bücher, die herumliegen. „Johann Abraham Peter Schulz“, steht groß auf einem Buchdeckel, „Neue Gesänge für das ganze Volk“. Die beiden Männer sind in einer anderen Ecke des Raums. Wir können es wagen, in dem Buch zu blättern. Auf einer Seite lesen wir „Der Mond ist aufgegangen“ und erkennen die bekannte Melodie dazu. Auch die hat Schulz also geschaffen. Noch lieber wäre uns freilich, die Seite mit „Ihr Kinderlein, kommet“ zu finden. Endlich eine mit den Notenzeilen, auf denen wir unsere Melodie erkennen. Wir scheinen am Ziel zu sein. Aber dann die Enttäuschung: Der Text unter den Noten lautet: „Wie reizend, wie wonnig ist alles umher..“ Wir wollen da gar nicht weiterlesen.

Na ja, einen Teil unseres Auftrags haben wir immerhin erfüllt. Die Melodie haben wir gefunden. Jetzt muss unser Text dazu her. Wir verlassen das Schloss und schreiben auf die Zauberkugel: „Leider nur die Melodie gefunden – stammt von Johann Abraham Peter Schulz, der neben seinen Opern auch gute Melodien für alle schreibt. Aber unsere Melodie hat noch nicht den richtigen Text. Den müssen wir jetzt finden. Wir bitten um eine neue Anweisung“. Wir warten gespannt, aber schon nach wenigen Augenblicken leuchtet die Schrift auf: Geht im Jahr 1810 in der Adventszeit in den Ort Thannhausen in Schwaben und hört euch dort um“.

Wir spazieren also aufmerksam durch dieses Städtchen. Aus der Kirche purzelt gerade eine Kinderschar, die zum Teil von Eltern abgeholt wird. Wir nähern uns vorsichtig und hören, wie Kinder vom Krippenspiel erzählen. Aus den einzelnen Satzfetzen fügt sich für uns folgende Nachricht zusammen: Pfarrer Christoph Schmid hat das Krippenspiel geschrieben. Die Kinder kennen ihn vor allem von der Schule, denn er ist auch Schulinspektor. Die Kinder mögen ihn sehr, weil er so schön erzählen und sogar dichten kann. Wenn das keine heiße Spur ist!

Pfarrer Schmid macht noch einen Besuch und wir haben Zeit, uns ungestört in seinem Pfarrhaus umzusehen. In seinem Arbeitszimmer finden wir eine Menge Bücher, auch lose Blätter. Wir fangen an, nach unserem Lied zu suchen. Aber wir finden es nicht. Stattdessen philosophische Bücher mit Sätzen, die wir überhaupt nicht verstehen. Viele stammen von einem Professor Sailer, der sehr klug sein muss und gleichzeitig wohl mit unserem Pfarrer befreundet ist. Aber das hilft uns nicht weiter. Von „Ihr Kinderlein kommet“ keine Spur. Sind wir beim falschen Pfarrer gelandet? Aber dann noch ein Buch von ihm selbst mit Erzählungen zur Bibel für Kinder. Wir lesen ein bisschen in ihnen. Sie klingen schon sehr altertümlich für unsere Ohren. Dann finden wir immer mehr von solchen Büchern. Schmid muss ein berühmter Geschichtenerzähler sein. Auch Gedichte sind dabei. Wir sind also doch auf der richtigen Spur. Jetzt aber schnell weiter, damit wir noch unser Lied finden, bevor der Pfarrer zurückkommt.

Da, ein paar Blätter mit Notizen zum Krippenspiel für dieses Jahr. Wir lesen aufmerksam und mit klopfendem Herzen: „Alle Kinder sollen zur Krippe kommen, im vorne in der Kirche aufgebauten Stall. So sollen sie ganz nah das weihnachtliche Wunder sehen und spüren“. Wir hören Geräusche und müssen uns beeilen. Wir lesen hastig weiter und finden endlich die erlösenden Sätze: „Begleitung mit dem Gedicht: „Ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all. Zur Krippe her kommet…“ Wir müssen nicht weiterlesen. Hurra, wir haben das Lied gefunden. Schnell hinaus aus dem Arbeitszimmer. Wir beobachten, wie Pfarrer Schmid mit zwei Herrn ins Pfarrhaus eintritt, und wir können hören, was sie sagen. Sie bleiben zur Verabschiedung noch in der Tür stehen und die beiden Begleiter sagen: „Herr Pfarrer, wir sind gerne dazu bereit, uns zu Ihrem Gedicht für das Krippenspiel auch eine schöne Melodie auszudenken. Pfarrer Schmid verabschiedet sie als die Herren Höfer und Singer.
Uns wird leider klar, dass wir zwar den richtigen Text und die richtige Melodie gefunden haben, aber wie beides zusammengekommen ist, das wissen wir noch nicht. Das enttäuscht uns. Wir waren doch schon so nahe am Ziel. Wie sollen wir bloß herausfinden, wie die Melodie aus Kopenhagen mit dem Text aus Thannhausen zusammenkommt? Wir lassen uns von der Zauberkugel auch für die folgenden Jahren wieder zur Adventszeit nach Thannhausen versetzen. Wir finden heraus, dass unser Lied inzwischen weite Kreise gezogen hat und überall Musiker Melodien dazu erfunden haben. Aber die gesuchte ist nirgendwo dabei. Deshalb müssen wir die Zauberkugel erneut um Rat bitten.

Die meldet sich sogleich mit einem neuen Auftrag: „Geht ins Jahr 1829 und nach Gütersloh in Westfalen. Und weil wir schon ein bisschen mutlos geworden sind, kommt noch eine Ergänzung: „Sucht den evangelischen Lehrer und Organist Friedrich Hermann Eickhoff auf“. Es ist für uns ein Leichtes, ihn ausfindig zu machen. Es gelingt uns auch hier, bis zu seinem Arbeitszimmer in seiner Wohnung vorzudringen. Wir verhalten uns mucksmäuschenstill und beobachten ihn, wie er auf seinem Schreibtisch zwei Blätter miteinander vergleicht. Das eine ist das Liedblatt von Johann Abraham Peter Schulz, aber nicht mit dem von uns gewünschten Text. Das andere enthält zwar den richtigen Text von Christoph Schmid, aber mit einer anderen Melodie. Er summt die eine Melodie, dann die andere, schaut wieder auf den Text, schüttelt überrascht den Kopf. Wir können uns kaum ruhig halten, so nahe am Ziel unseres Forschungsauftrags. Jetzt wollen wir alles genau wissen und bleiben.

Es klopft an der Tür, ein Mann tritt ein, den Lehrer Eickhoff als seinen Freund Johann Heinrich freudig willkommen heißt. Dann klopft es noch einmal, Frau Eickhoff tritt ein, begrüßt den Freund als Herrn Pfarrer Volkening. Der Organist Eickhoff erzählt den beiden gleich von seiner Entdeckung: „Ich habe den Liedtext von Christoph Schmid mit mehreren Melodien verglichen“, berichtet er. „Am besten passt ohne Zweifel die von Schulz. Sie passt sogar viel besser zum Weihnachtslied als zu dem Text, für den Schulz ursprünglich die Melodie geschrieben hat“. Eickhoff erklärt: „Im zweiten Teil der Melodie kommt sie zu ihrem höchsten Ton“. Er singt: ‚..der Vater im Himmel‘. „Und in den anderen Strophen ist es genauso“, fährt er fort und singt: ‚viel schöner und holder – schwebt jubelnd – stimmt freudig – auf ewig‘. „Habt ihr es gemerkt?“ fragt er die beiden, „wie die Höhepunkte der Melodie genau zu den wichtigsten Worten in jeder Strophe passen?“ Die beiden nicken, überrascht von dieser Entdeckung. Kurz darauf dreht sich das Gespräch um die Frage, wie das Lied in dieser Form möglichst vielen Menschen bekannt werden kann.

Frau Eickhoff sagt: „Mein Vater hat doch den Bertelsmann-Verlag gegründet, und der ist sehr bekannt. In der nächsten Liedersammlung, die er drucken lässt, wird ganz bestimmt dieses Lied dabei sein und kann so seine Kreise ziehen“. Die beiden Männer nicken zustimmend und Pfarrer Volkening ergänzt: „Und ich denke an mein Liederbuch ‚Kleine Missionsharfe‘. Das findet reißenden Absatz. Ich lasse es immer wieder neu und mit Ergänzungen drucken, und auch so wird das Lied überall bekannt werden“. Friedrich Eickhoff sagt noch: „Das könnten wir bis zur nächsten Adventszeit schaffen. Ich bin überzeugt, dass dieses Lied sehr großen Anklang finden wird“.

Wir haben genug gehört und können zufrieden und stolz der Zauberkugel melden: „Lied in Text und Melodie gefunden. Seiner Berühmtheit steht nichts mehr im Wege“. Wir wollen freilich unseren Erfolg noch eine Weile auskosten und gönnen uns für die auf 1829 folgenden Jahre noch Ausflüge in Buchhandlungen, Gesangbuchschränke in Kirchen und Gemeindehäusern, zu Krippenspielen und Gottesdiensten in der Weihnachtszeit. Überall wird unser Lied gesungen, so wie wir es bis zum Schluss erforscht haben. Wir gönnen uns Ausflüge in andere Länder, von Europa nach Amerika und Asien. Wir hören, wie das Lied in anderen Sprachen gesungen wird und melden so noch unserer Zauberkugel: „Es ist tatsächlich das am meisten gesungene Weihnachtslied. Das können wir jederzeit beweisen“.

 

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