Matthias Claudius –ein weltoffener und Gott verbundener Lebenskünstler


Informationen

Mit seinem Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“ (Evang. Gesangbuch Nr. 482) ist Matthias Claudius berühmt geworden. Er lebte 1740-1815 und verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Wandsbek bei Hamburg, wo er von 1778 an als Redakteur und Autor eine Zeitung mitgestaltete, nämlich die Rubrik des ‚Vermischten‘ aus aller Welt betreute, in der er als der Wandsbeker Bote Asmus seine Berichte, Kommentare, Dichtungen einbrachte. In der Epoche der ‚Aufklärung‘ mit der Orientierung an dem, was menschlicher Geist frei von bevormundenden Zwängen erforschen und gestalten kann, ist er zum einen den Zielen dieser Bewegung verbunden. Er bleibt aber zugleich tief in seinem christlichen Glauben verankert und macht es sich zur Aufgabe, hinter die Dinge des vor Augen Liegenden zu schauen, sich das Staunen über Gottes Schöpfung zu bewahren. Zusammen mit seiner Frau Anna Rebekka war er innig seinen acht Kindern verbunden und nahm im sog. „Kindlichen“ den tiefen Blick für das Wesentliche wahr. Für ihn gilt, das der Matthias-Claudius Biograph Martin Geck so formuliert hat: „Der Abstand zwischen Gott und dem menschlichen Verstand ist so gewaltig, dass nur eine kindliche Theologie nicht kindisch ist“. (S.276).

Die Erzählung ist in allen drei Teilen im Familienleben des Matthias Claudius angesiedelt. Die einzelnen Szenen sind in ihrem Grundgefüge historisch gut belegt und schlagen Brücken zu vier bekannten Gedichten.

Zur ersten Szene des Hamburg-Ausflugs ein Zitat des Weggefährten Anton Matthias Sprickmann: „Oft gingen wir des Abends vor Torschließen nach Haus und kaum kam uns das liebe Weib mit ihrem Mädchen entgegen – er hat zwei Kinder, das älteste ist ungefähr 2 ½ Jahre alt. Bei dem ist er beinahe Kindermagd. Oft habe ich ihn gefunden, dass er auch auf der Straße sich mit dem Mädel im Grase herumwälzte, indes „le beau monde“ von Hamburg daneben spazierte und sich vielleicht über ihn skandalisierte“.
Die zweite Szene der Kartoffelernte bezieht sich auf das „Paul-Erdmanns-Fest“, eine von Claudius gestaltete Lieder-Szene.
Auch die Laube der dritten Szene ist gut belegt: Wegbegleiter Johann Heinrich Voß schreibt: „Besonders ist der Lustwald des Baron Schimmelmann das schönste Gehölz, das ich kenne. Wir sind den ganzen Tag bei Bruder Claudius, und liegen gewöhnlich bei seiner Gartenlaube auf einem Rasenstück im Schatten, und hören den Kuckuck und die Nachtigall“. Mit seinem Abendlied knüpft Matthias Claudius ganz bewusst an das bekannte Abendlied von Paul Gerhardt an: „Nun ruhen alle Wälder“ (Ev. Gesangbuch Nr. 477).

 

Erzählung (Teil 1): Mit den Kindern den Blick auf das Wesentliche gewinnen

„Habt ihr heute Nachmittag Lust zu einem Ausflug nach Hamburg““ fragt Vater Matthias beim Sonntagsfrühstück in die Tischrunde hinein. Neben der Mutter Anna Rebekka sitzen die zehnjährige Anna, die achtjährige Auguste und die sechsjährige Johanna. Der kleine Matthias liegt noch in seiner Wiege daneben. Auf die Frage hin wird es gleich sehr lebendig unter den Kindern. „Au ja!“ ruft Anna“, da gibt es so viel zu sehen, da ist alles so anders in unserem Dorf!“ „Aber der Weg ist so weit“, maulen die beiden Kleineren. Da sind wir ja schon müde, bis wir nach Hamburg gelaufen sind, und dann noch der ganze Rückweg!“ „Ja, wenn wir wie sonst gehen, ist es schon weit über eine Stunde zu laufen von unserem Wandsbek bis in die Stadt“, antwortet die Mutter. „Aber heute kann uns der Nachbar Hansen in seiner Kutsche mitnehmen. Er hat in Hamburg zu tun und nimmt uns auch wieder mit nach Hause“. Damit sind alle sehr einverstanden.

Doch jetzt wendet Anna noch ein: „Aber zu einem Spaziergang an der Alsterpromenade habe ich keine Lust. Da müssen die Kinder immer ganz brav mit ihren Eltern gehen. Die treffen dann Bekannte und plaudern mit ihnen, und die Kinder müssen auch stehenbleiben. Das ist dann so langweilig. Das hat mir meine Freundin erzählt“. Da zwinkert die Mutter dem Vater zu und meint: „Ihr wisst doch, dass es mit unserem Vater ganz anders ist. Auch auf der Alsterpromenade in Hamburg“. Die Kleinen nehmen diesen Satz gerne auf und sagen: „Wir nehmen unseren Matthias im Kinderwägelchen mit und singen laut miteinander das Lied von seinem ersten Zahn, das Vater gedichtet hat“. Und schon singen sie nach ihrer selbst erfundenen Melodie:

Victoria! Victoria!
Der kleine weiße Zahn ist da.
Du Mutter! komm, und groß und klein
Im Hause! Kommt und kuckt hinein,
Und seht den hellen weißen Schein.
Der Zahn soll Alexander heißen.
Du liebes Kind! Gott halt ihn Dir gesund,
Und geb Dir Zähne mehr in Deinen kleinen Mund,
Und immer was dafür zu beißen!

Auguste meint: „Und wenn wir eine Wiese finden, setzen wir uns dort gemütlich hin und machen zusammen unsere Spiele“. Mit ihren Ideen und Wünschen freuen sich alle auf den Stadtausflug. Und so wie sie es sich ausgedacht haben, geschieht es auch. Sie singen ihre Lieder, spielen Verstecken und Wettrennen – und das alles auf der vornehmen Promenade. Sie setzen sich daneben ins Gras, schauen dem kleinen Matthias beim Krabbeln zu, kugeln mit dem Vater einen kleinen Abhang hinunter. Beim Weitergehen spielen sie „Was du nicht siehst, hat die Farbe…“ Der Vater trägt den kleinen Matthias auf seinem Arm.

Als sie dann später wieder in der Kutsche sitzen, meint Anna: „Habt ihr gesehen, wie komisch die anderen Leute oft zu uns hergesehen haben? Als ob wir etwas getan hätten, das sich nicht gehört“. Nach einer kleinen Pause fragt sie: „Vater, warum machst du es trotzdem, obwohl es die anderen Leute ungehörig finden?“ Der antwortet: „Ganz einfach, weil ich euch Kinder so gerne habe! Ihr seid das kostbarste Geschenk für eure Mutter und für mich. Ihr seid ein Gottesgeschenk für uns mit euren Ideen und eurer Lebendigkeit. Und wir wollen, dass ihr das so oft wie möglich spüren könnt. Das ist uns beiden viel wichtiger als das, was andere Leute über uns denken. Wir nehmen mit unserer Freude niemandem etwas weg. Vielleicht können wir sogar andere damit anstecken“.

Mutter Anna Rebekka nickt zustimmend. „Was ist falsch daran, wenn ein Vater beim Spaziergang sein kleines Kind auf seinen Armen trägt? Falsch ist doch viel eher, dass es die anderen nicht tun, weil sich das angeblich nicht gehört“. Und dann sagt sie noch nach einer kurzen Pause: „Ich bin stolz darauf, dass unser Vater so ist, wie er ist. Und viele unserer Freunde sind es auch. Die lassen sich gerne anstecken von seinen fröhlichen Ideen“.

Am Abend, nachdem die Kinder ins Bett gebracht sind, sitzen Matthias und Anna Rebekka noch beieinander. „Du bist schon ein ganz besonderer Mensch“, sagt die Mutter. „Du bist ein ziemlich berühmter Dichter geworden. Du schreibst kluge Beiträge für deine Zeitung, die von vielen gelesen werden. Aber du strebst nicht nach Ruhm und Ansehen wie die anderen Dichter und Philosophen“. „Ja, ganz bewusst tue ich das“, antwortet Matthias. „Ich will auf das Kleine und Unscheinbare in unserem Leben und Alltag achten und in meinen Gedichten auch andere darauf aufmerksam machen. Zum Beispiel auch auf den ersten Zahn und das Wunder, wie ein kleines Kind immer größer und immer mehr zu einer eigenständigen Person wird. Oder auf das Wunder, dass wir um uns herum so viel finden können, das unser Leben schön macht – auch wenn es für andere ungewöhnlich uns sonderbar ist“.

Anna Rebekka antwortet: „In deinen Gedichten sagst du das in ganz einfachen Worten, die jeder versteht und die so von Herzen zu Herzen gehen“. Matthias nickt und meint dazu: „Das größte Wunder sind wir selbst und unser eigenes Leben, zu dem uns Gott so viel mitgegeben hat. Ich will, dass wir im anscheinend Selbstverständlichen immer wieder das Besondere, Einmalige, Wunderbare und auch Geheimnisvolle entdecken – und dass wir es als ein Gottesgeschenk annehmen können“. Darum ist mir auch dieses Gedicht von mir so wichtig“. Und er spricht mit feierlicher Stimme:

Ich danke Gott, und freue mich
Wie’s Kind zur Weihnachtsgabe,
Dass ich bin, bin! Und dass ich dich,
Schön menschlich Antlitz habe;

Dass ich die Sonne, Berg und Meer,
Und Laub und Gras kann sehen,
Und abends unterm Sternenheer
Und lieben Monde gehen;

Und dass mir denn zumute ist,
Als wenn wir Kinder kamen,
Und sahen, was der heil’ge Christ
Bescheret hatte. Amen!

Ich danke Gott mit Saitenspiel,
Dass ich kein König worden;
Ich wär geschmeichelt worden viel,
und wär vielleicht verdorben.

Auch bet ich ihn von Herzen an,
Dass ich auf dieser Erde
Nicht bin ein großer reicher Mann,
Und auch wohl keiner werde.

Denn Ehr und Reichtum treibt und bläht,
Hat mancherlei Gefahren,
Und vielen hat’s das Herz verdreht,
Die weiland wacker waren.

Und all das Geld und all das Gut
Gewährt zwar viele Sachen;
Gesundheit, Schlaf und guten Mut
Kann’s aber doch nicht machen.

Und die sind doch, bei Ja und Nein!
Ein rechter Lohn und Segen!
Drum will ich mich nicht groß kastein
Des vielen Geldes wegen.

Gott gebe mir nur jeden Tag,
Soviel ich darf zum Leben.
Er gibt’s dem Sperling auf dem Dach;
Wie sollt er’s mir nicht geben!

Anna Rebekka meint noch: „Ich glaube, ich weiß am besten, wie viel von deinem Leben in diesem Gedicht drinsteckt!“

Gesprächsanregungen

  • Was hast du in diesem ersten Teil der Geschichte über das Leben des Matthias Claudius erfahren?
  • Was findest du eher ungewöhnlich und sonderbar?
  • Was gefällt dir an Matthias Claudius gut, was weniger gut?
  • Wo könnte Matthias Claudius in seiner Lebensweise ein Vorbild für uns sein?

Erzählung (Teil 2): Kartoffelernte und Erntedank

Einige Zeit später ist die Kartoffelernte angesagt. Matthias Claudius vereinbart mit einem der Bauern, dass er mit seiner Familie auch ein bisschen mithelfen darf. Die Kinder sind mit Feuereifer dabei. Mit ihren festen Schuhen stapfen sie durch die Reihen der Kartoffelpflanzen, graben mit Schaufel und Hacke oder bloß mit den eigenen Händen, fördern die Kartoffelknollen zutage und reinigen sie notdürftig. Sie haben Schürzen umgebunden, damit sie sich nicht allzu dreckig machen. Alle fühlen sie sich wohl im Kreis der Bauersleute. Die kleine Johanna staunt, dass man diese sonderbaren Steine, die man da aus der Erde gräbt, wirklich essen kann. Ja, das wird sie ganz genau erleben, wenn später die ersten Kartoffeln über dem Feuer gebraten werden.

Wenige Tage danach lädt Vater Claudius in sein Haus zu einem Kartoffelfest ein. Die Eltern haben aus den Kartoffeln, die sie selbst geerntet haben, wohlschmeckende Speisen zubereitet. Weil es ihre Kartoffeln sind, schmeckt es den Kindern besonders gut.

Natürlich gehört zu einem Fest auch eine Geschichte. Die hat sich Vater Claudius ausgedacht. Er erzählt von einem Bauern. Der heißt Paul Erdmann und wird ebenfalls in einem Fest von der Dorfgemeinschaft und dem Gutsherrn für seine langjährige fleißige Arbeit geehrt. Das gilt natürlich besonders für seine Arbeit mit den Kartoffeln, die auch besonders gut schmecken. Aber es gibt auch einige vornehme Gäste, die über die Kartoffeln die Nase rümpfen: ‚Was kann man denn aus Kartoffeln schon Gutes zubereiten?‘ sagen sie. ‚Viel besser schmecken doch feine Kuchen und Pasteten!‘ Aber da schallt ihnen der Chor der anderen entgegen. Sie singen: ‚Pasteten hin, Pasteten her, was kümmern uns Pasteten? Ihr Herren, lasst euch sagen: Schön rötlich die Kartoffeln sind und weiß wie Alabaster! Sie sind für Mann und Frau und Kind ein rechtes Magenpflaster!“ – also etwas, das dem hungrigen Magen sehr, sehr gut tut. Die Geschichte endet damit, dass die Bauersleute vom Dorf ein langes, gereimtes Tischgebet sprechen. Das hat natürlich Vater Claudius selbst gedichtet.

1) Wir pflügen, und wir streuen
den Samen auf das Land,
doch Wachstum und Gedeihen
steht in des Himmels Hand:
der tut mit leisem Wehen
sich mild und heimlich auf
und träuft, wenn heim wir gehen,
Wuchs und Gedeihen drauf.

Refrain: Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn,
drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt und hofft auf ihn!

2) Er sendet Tau und Regen
und Sonn- und Mondenschein,
er wickelt seinen Segen
gar zart und künstlich ein
und bringt ihn dann behände
in unser Feld und Brot:
es geht durch unsre Hände,
kommt aber her von Gott.

3) Was nah ist und was ferne,
von Gott kommt alles her,
der Strohhalm und die Sterne,
der Sperling und das Meer.
Von ihm sind Büsch‘ und Blätter
und Korn und Obst von ihm,
das schöne Frühlingswetter
und Schnee und Ungestüm.

4) Er lässt die Sonn aufgehen,
er stellt des Mondes Lauf;
er lässt die Winde wehen
und tut den Himmel auf.
Er schenkt uns so viel Freude,
er macht uns frisch und rot;
er gibt den Kühen Weide
und unsern Kindern Brot.

Nach der Geschichte und dem Gedicht sind jetzt auch die Gäste im Hause Claudius zum Essen eingeladen. Die Tischgespräche gehen hin und her. In manchen geht es auch um das Gedicht, das Vater Matthias vorgetragen hat. „Ein schönes Gedicht“, sagt einer. „Schön ist es auch, weil es um unsere Arbeit als Bauersleute geht“, sagt ein anderer. Eine der Frauen ergänzt: „Und wir wissen genau, dass wir auf Gottes Hilfe angewiesen sind, damit alles gedeiht. Ich habe mir schon oft Gedanken gemacht, wie all das, was wir tun, mit Gott zu tun hat. Mit dem Gedicht von Matthias Claudius kann ich es viel besser verstehen. ‚Es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott‘. Ja, so ist es“. Wieder jemand anderes sagt: „Und was für unsere Arbeit als Bauern gilt, das gilt schließlich für alles in der Welt. Alles kommt von Gott her“. Wieder jemand anderes meint: „Mit diesem Gedicht hat uns unser Dichter Matthias Claudius ja wirklich eine Predigt gehalten. Mit ihr können wir viel besser verstehen, wie alles in unserer Welt und um uns herum mit Gott zu tun hat“. Immer wieder wird Matthias Claudius gebeten, das Gedicht noch einmal aufzusagen, und dann meint einer noch: „Wenn es auch noch eine Melodie dazu gibt, können wir es uns viel besser merken. Matthias Claudius bedankt sich für das Lob und sagt dann noch: „Es wird bestimmt nicht lange dauern, bis dieses Gedicht mit einer schönen Melodie auch zu einem Lied wird“.

Als nach dem Fest wieder alles aufgeräumt ist und die Eltern müde zu Bett gehen, da sagt Anna Rebekka noch zu Matthias: „Was mir an deinen Gedichten so gut gefällt, das ist, dass sie so gut zu unserem Leben passen. Sie nehmen das auf, was wir erleben und tun – und zugleich auch das, wie wir über Gott nachdenken. Das passt so gut zusammen, dass es auch schon die Kinder verstehen können“. Matthias antwortet lachend: „Ja, die große Theologie, die großen Lehren von Gott sind eigentlich nur groß, wenn sie für Groß und Klein, für alle Menschen eine gute Hilfe zum Glauben sind. Da können wir von den Kindern, von ihrem Erleben und Nachdenken über Gott und die Welt, einiges lernen!“

Gesprächsanregungen

  • Welche inneren Bilder hast du in diesem Teil der Geschichte gesehen?
  • Was aus dieser Geschichte kann uns Anregungen für unser eigenes Erntedankfest geben?
  • Welche Strophen aus dem Erntelied gefallen dir besonders gut und warum?

 

Erzählung (Teil 3): Ein Abend im Mondschein

Mit dem beginnenden Herbst werden auch die Tage kürzer. Wenn es im Haus ruhig geworden ist, gehen Matthias und Anna Rebekka in der Dämmerung gerne in den Garten und zu der Laube. Sie steigen die kleine Leiter hinauf auf ihr Dach und blicken über die Wiese hinweg in den Wald. So sitzen sie in die anbrechende Dunkelheit hinein, schweigen viel und reden wenig. Sie genießen die Stille um sich herum.

So ist es auch heute. Lange sagen die beiden nichts. Sie schauen zu, wie der Waldrand immer dunkler wird und sich zugleich der Mond durch die Wolken schiebt. Silbrige Strahlen leuchten auf der Wiese auf, werden mit den wandernden Wolken mal stärker, mal schwächer.

„Ach“, seufzt Anna Rebekka, „wenn ich so mit dir dasitze und dem Lichtschein des Mondes zuschaue, dann kann ich so gut hinter mir lassen, was mich den Tag über beschäftigt und auch bedrückt hat“. Matthias nickt und fragt behutsam zurück: „Wird wieder das Geld knapp?“ Anna Rebekka nickt. „Das, was du mit der Arbeit an deiner Zeitung, dem Wandsbeker Boten, verdienst, reicht eben kaum zu dem, was wir zum Leben brauchen. Aber es ist wohl das Los der Dichter, dass sie mit ihrer Arbeit nicht so viel verdienen wie andere, die genau vorrechnen können, was sie geleistet haben“. Matthias nickt und meint: „Aber immerhin ist unser Gutsherr, der Baron Schimmelmann, uns wohlgesonnen und lässt uns immer wieder etwas zukommen. Er mag das, was ich dichte und schreibe“. „Ich mag es ja auch“, antwortet Anna Rebekka. „Deine Gedichte haben einen so großen Wert, den kann man nicht berechnen. Mit ihnen tauche ich ein in eine andere Welt, in der es ums Schauen und Staunen geht und das Nachdenken darüber. Und dabei spüre ich Ruhe und Zufriedenheit“. „So wie jetzt?“ fragt Matthias zurück, und Anna Rebekka nickt und meint dann: „Was wäre wohl dein Gedicht zu dem, was wir gerade erleben, genießen, schauen und bedenken?“ Lange sagt Matthias nichts, und dann spricht er leise und nachdrücklich:

Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille,
Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.

„Ja, so ist es“, flüstert Anna Rebekka nach einer Weile vor sich hin und sagt dann zu Matthias: „Mit deinen Gedichten kann ich so gut in mir festhalten, was ich gerade erlebe. Ich fühle mit frei von all dem anderen, das mich bedrängt. Und das ist wertvoller als viel Geld in der Tasche. Da wandere ich in und mit meinen Gedanken in die Welt hinaus und wieder in mich hinein.

Dann erzählt Matthias: „Neulich war ich mit den Kindern auch in der Dämmerung hier draußen. Es war so wie heute. Der Mond war nur zur Hälfte zu sehen, und Anna hat gefragt: ‚Warum ist der Mond immer so verschieden da, , mal ganz, mal halb, mal gar nicht?‘ Ich habe zuerst versucht, ihr zu erklären, dass das mit seiner Bahn um die Erde und dem Schein des Sonnenlichts auf ihm zu tun hat. Aber Anna hat immer wieder nachgebohrt: ‚Wie kann es sein, dass vom Mond etwas da ist und man es trotzdem nicht sehen kann?‘ Wir sind dann ins Gespräch gekommen: über Unsichtbares, das es gibt, und über die Frage, wie man wissen kann, ob es überhaupt da ist“.

„So ist es doch auch mit Gott“, meint Anna Rebekka nachdenklich. Da leuchtet etwas von ihm in unsere Welt und in unser Leben hinein, mal mehr, mal weniger, und doch bleibt Gott selbst unsichtbar. Manchmal muss ich lachen über Menschen, die nur glauben können, was man auch sehen und wissen kann. Aber dann tun sie mir auch leid, weil sie nicht ahnen können, welcher Reichtum für uns in dem Unsichtbaren steckt“. Nach einer Pause spricht Matthias das Gedicht weiter, das in ihm Strophe um Strophe entsteht:

Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.

Wir stolze Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder
Und wissen gar nicht viel;
Wir spinnen Luftgespinste
Und suchen viele Künste
Und kommen weiter von dem Ziel.

Anna Rebekka lässt nicht locker: „Das mit dem Unsichtbaren ist schon ein großes Geheimnis. Am größten wird dieses Geheimnis für mich, wenn ich darüber nachdenke, was nach dem Tod kommt. Wo sind dann die Toten? Wie finden sie in Gottes unsichtbarer Welt eine neue Heimat? Und wie werden wir zu dieser Heimat finden, wenn wir sterben?“ Matthias meint dazu: „Wir können dieses Geheimnis nicht ergründen. Aber wir können Gott darum bitten, dass es so ist mit der neuen Heimat bei ihm und dass auch wir gut zu unserem Ziel in dieser Heimat finden werden“. Und er spricht langsam und bedächtig weitere Strophen seines Abendlieds.

Wollst endlich sonder Grämen
Aus dieser Welt uns nehmen
Durch einen sanften Tod!
Und, wenn du uns genommen,
Lass uns in Himmel kommen,
Du unser Herr und unser Gott!

„Es ist spät geworden“, sagt Anna-Rebekka, „und auch kalt. Lass uns ins Haus gehen, hoffen und beten, dass wir alle gut schlafen können. Ich denke an unsere Kinder und ganz besonders an die Menschen, die vor der Nacht Angst haben, Angst vor ihren Sorgen, Angst vor ihren Schmerzen, Angst vor ihrer Einsamkeit“. Bevor die beiden dann aufstehen, nimmt Mattias seine Anna Rebekka bei der Hand und spricht den Abschluss seines Abendlieds:

So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott! mit Strafen,
Und lass uns ruhig schlafen!

Und unsern kranken Nachbar auch!


Gesprächsanregungen

  • In diesem bekannten Abendlied stecken auch viele Bilder und Gedanken, die wir in uns tragen.
    Was aus diesem Lied erinnert dich an eigene Erlebnisse und Gedanken?
  • Was würde dir fehlen, wenn es den Mond mit seinem Schein nicht gäbe?
  • Matthias Claudius hat in seinem Lied eine Anregung gegeben, wie wir mit dem Unsichtbaren in unserer Welt umgehen können.
    Welches Unsichtbare ist für dich wichtig?
    Welche Fragen und Gedanken beschäftigen dich dabei?
  • Mit ‚Strafen‘ meint Matthias Claudius auch das, was uns am ruhigen Schlaf hindert.
    An was denkst du dabei?
  • Was ist im Gegenteil dazu für dich eine Hilfe zum guten Schlaf?
  • Welchen Menschen möchtest du gerne in deinem Gute-Nacht-Gebet ganz persönlich einen guten Schlaf wünschen?

Literaturhinweis

Martin Geck: Matthias Claudius. Biographie eines Unzeitgemäßen. München 2014.
Annelen Kranefuss: Matthias Claudius. Hamburg 2011.
Hans Jürgen Schultz (Hg): Es gibt was Bessres in der Welt. Ein Matthias Claudius-Buch. Stuttgart 1983.

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