Ulrich Zwingli – Reformator Zürichs

Vorüberlegungen

Neben Wittenberg als Zentralort der Reformation Martin Luthers und seiner Mitarbeiter setzt Zwinglis Reformation in Zürich inmitten der breiten reformatorischen Gemeinsamkeiten deutliche eigene Akzente. Hielt in Wittenberg der sächsische Kurfürst seine schützende Hand über die lutherische Reformation, so war in Zürich – wie in etlichen süddeutschen Reichsstädten – der Rat der Stadt für alle religionspolitischen Veränderungen verantwortlich. Dessen mehrheitlich getroffene Entscheidungen waren damit auch viel deutlicher Ausdruck des allgemeinen Bürgerwillens. Im rein theologischen Bereich unterscheiden sich Luther und Zwingli wohl am deutlichsten und folgenreichsten in ihrem Abendmahlsverständnis. Während Luther an der ‚Realpräsenz‘ Jesu Christi in Brot und Wein festhält - gemäß den biblischen Worten „das ist mein Leib – das ist mein Blut“, versteht Zwingli diese Gegenwart Jesu Christi in den Elementen Brot und Wein eher symbolisch: „das bedeutet: mein Leib, mein Blut“. Sie ist ganz im Erleben der Beteiligten beim Erinnerungsmahl zu suchen. Zwingli und Luther haben sich nicht verständigen können, trotz etlicher Vermittlungsversuche. Erst mit der „Leuenberger Konkordie“ von 1973 wurde endgültig die Abendmahlsgemeinschaft zwischen evangelisch-lutherischen und evangelisch-reformierten Christen hergestellt.

Ulrich (Huldrych) Zwingli hat seine Heimat in der Schweizer Eidgenossenschaft mit ihren basisdemokratischen Traditionen. Geboren wurde er am 1.1.1484 (also nur sechs Wochen nach Luther) im Toggenburger Land. Schon in seiner Schulzeit in Basel und Bern lernt er die neue geistige Strömung des Humanismus kennen. Er studiert in Wien und Basel, wird Lateinlehrer. 1506 wechselt er mit seiner Priesterweihe in den kirchlichen Dienst. Er wirkt zuerst in Glarus, dann am Wallfahrtsort Einsiedeln, an dem er Auswüchse von Wunderglauben und Ablasswesen erlebt. Sein Bibelstudium und seine Beschäftigung mit den ersten reformatorischen Schriften aus Deutschland wecken in ihm heftige Kritik an solchen Traditionen. Dann folgt er dem Ruf ans Züricher Großmünster, wo er durch intensive Bibelpredigten die Züricher auf die Reformation einstimmt.

Zwingli möchte eine Wendung aller Schweizer Kantone zur Reformation erreichen und eine religiöse Spaltung, wie sie im deutschen Reich geschah, vermeiden. Das aber gelingt ihm nicht. Stattdessen kommt es schon 1531 zum Krieg zwischen altgläubigen und reformierten Kantonen. Zwingli stirbt in der Schlacht von Kappel, mit nur 47 Jahren – noch bevor er seine theologischen Erkenntnisse ausreichend entfalten konnte. Die zunächst von seiner Theologie geprägten süddeutschen Reichsstädte wenden sich in der Folge den spezifisch lutherischen Traditionen zu. Sein Erbe geht schließlich ein in die später von Jean Calvin durchgeführte Genfer Reformation.

Die Erzählung gliedert sich in drei Abschnitte.
Der erste ist dem sog. ‚Wurstessen‘ gewidmet, einer provozierenden Aktion, mit der Zwingli und seine Freunde die Brücke von reformatorischen Einsichten zu entsprechenden Veränderungen schlagen. Dieser Erzählteil gibt auch Einblicke in die Züricher Stadtgesellschaft zu Zwinglis Zeit.
Der zweite Abschnitt wählt als Szenerie das Hochzeitsfest Ulrich Zwinglis mit Anna Reinhart – mit einem erdachten Gesprächsrahmen, in dem wir auf Zwinglis berufliche Anfänge in Glarus zurückblicken und die Auseinandersetzungen zwischen dem Bischof von Konstanz und Zwingli bzw. dem Rat der Stadt kennenlernen. Typisch für die Reformation in reichsfreien Städten war, wie die Stadtregierungen auch die Regelungen in religiösen Angelegenheiten in ihre eigene Zuständigkeit übernahmen.
Übrigens war Zwingli hochmusikalisch, spielte bis zu zehn Instrumente, hat Lieder gedichtet (im Evang. Gesangbuch Nr.242). Rätselhaft ist, warum er mit den Bildern in Kirchen gemäß dem biblischen Bilderverbot auch Musik und Gesang aus den Gottesdiensten verbannt hat.
Der dritte Erzählteil widmet sich Zwinglis Auseinandersetzung mit dem sog. „linken Flügel“ der Reformation, den sog. „Wiedertäufern“ und „Schwärmern“, die ihre eigenen Gemeinden gründeten. Sie standen dem Bemühen der Stadtregierung um Ordnung, Einheit und auch Klarheit in religiösen Angelegenheiten entgegen.

Die Erzählung zeigt, wie die reformatorischen Grundsätze (z.B. Allein Gottes Wort, allein Jesus Christus, allein der Glaube) in den Menschen und im gemeinschaftlichen Miteinander nach und nach Gestalt gewinnen konnten und was die für die Reformation Verantwortlichen dazu beitrugen.
Deutlich wird dabei der Mut, die Entschlossenheit, Ausdauer und Zielstrebigkeit von Zwingli, mit denen er seine Begeisterung für die neue Sicht des Glaubens in die Tat umsetzte.

Diese Erzählung richtet sich auch an Erwachsene, die daran interessiert sind, ein differenziertes Bild von den reformatorischen Ereignissen zu gewinnen. Dem dienen die erzählten historischen Begebenheiten, die in den erdachten Szenen gebündelt sind. Im Blick auf das Alter der Kinder sind diese Details je nach Bedarf zurückzunehmen, vor allem auf das begeisterte und mutige Engagement Zwinglis für seine Glaubensentdeckung und den Willen, sie auch anderen zugänglich zu machen.

Erzählung – Teil 1: Von Worten zu Taten – Das Wurstessen

Ulrich Zwingli kommt aus seiner Kirche, dem Großmünster in Zürich, in dem er vor wenigen Minuten seine tägliche Predigt beendet hat. Einige seiner Zuhörerinnen und Zuhörer haben noch auf ihn gewartet und sprechen ihn an: „Es ist so neu für uns, wie Ihr, lieber Pfarrer Zwingli, zu uns sprecht. Jeden Tag bedenkt Ihr mit uns einen weiteren Abschnitt aus den Evangelien im Neuen Testament. So lernen wir Stück um Stück das ganze Evangelium kennen“. Eine Frau meint: „Ich kann ja kein Latein verstehen, in dem man die Bibel lesen könnte, aber so höre ich nicht nur die Übersetzung ins Deutsche, sondern bin immer wieder erstaunt über all die Gedanken, die Ihr, lieber Herr Zwingli, Euch zu jedem einzelnen Satz macht“. Zwingli wendet sich an den ganzen Kreis und antwortet: „Und mir ist wichtig, von Euch zu hören, welche Gedanken Euch dazu kommen. Das Evangelium wird erst richtig lebendig in all den Gedanken, die wir zusammentragen. Wer von Euch Zeit hat, ist herzlich eingeladen, mit ins Pfarrhaus zu kommen. Dort können wir noch weiter gemeinsam über das Gehörte nachdenken“.

Und so sitzen einige Männer und Frauen noch um den großen Tisch in der Amtsstube von Pfarrer Zwingli und reden über das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner im Tempel, über das Zwingli vorher in der Kirche gepredigt hat (Lukas 18,9ff.). „Da gibt sich der Pharisäer so viel Mühe, all die frommen Regeln und Gebote einzuhalten“, sagt einer. Eine andere erwidert: „Aber was nützt das, wenn er nur Verachtung für den anderen hat, der das nicht schafft?“ Und wieder einer meint dazu: „Alle Gebote, vom Spenden bis zum Fasten, genau einzuhalten, bringt uns also Gott nicht näher, wenn wir nur selbst vor Gott gut dastehen wollen“. Nach einer kleinen Pause zum Nachdenken sagt Zwingli: „Auf den ersten Blick erscheint es ja tatsächlich ungerecht, dass der gute Pharisäer eher unzufrieden den Tempel verlässt, aber der Zöllner, der nichts an solchen besonders guten Taten vorzuweisen hat, Gottes Nähe dankbar spüren kann“. Wieder meldet sich einer der Gäste und meint nachdenklich: „Dann kommt es also nicht darauf an, alle Regeln der Frömmigkeit ganz genau zu erfüllen, sondern dass man sich von Gott angenommen weiß“. Zwingli bekräftigt: „Darum geht es ja immer wieder im Evangelium, dass Gott uns seine Liebe schenkt. Wir müssen sie uns nicht mühsam verdienen. So können wir Gott unbeschwert dafür danken und aus vollem Herzen weiterschenken, was anderen wirklich zum Leben hilft.

Auch da ist die Bibel ein guter Ratgeber. Das Lukasevangelium hält noch etliche gute Beispiele dafür für uns bereit“.
Zwingli verabschiedet die Besucher, geht hinunter in die Stadt über die Brücke, auf der wie immer einige Leute mit ihren Angeln in der Limmat fischen und wendet sich dann zur Buchdruckerwerkstatt seines Freundes Christian Froschauer. Gleich am Eingang sind die neuesten von ihm gedruckten Schriften ausgestellt: Von Martin Luther, von dem berühmten Philosophen Erasmus von Rotterdam und natürlich auch von Ulrich Zwingli. Christian begrüßt Ulrich herzlich, zeigt ihm gleich, was er gerade gedruckt hat und liest laut, was in großen Buchstaben auf der ersten Seite steht: „Huldrych Zwingli – Predigten zum Matthäusevangelium“. Dann sagt er weiter: „Mit deinen Predigten, lieber Ulrich, hast du in unserer Stadt schon so viel bewegt und verändert. Jeden Tag neu öffnest du uns die Bibel wie eine Schatzkiste, mit deren Schätzen wir frei und dankbar und ohne Angst vor Gott leben können und alle miteinander gut dazu beitragen können, dass unser Zusammenleben in der Stadt gut gelingt“.

Ulrich wendet ein: „Aber vom Hören zum Tun ist oft ein weiter Weg. Wenn ich nur daran denke, dass gerade jetzt wieder die Fastenzeit beginnt und so viele peinlich genau darauf achten, dass sie nur ja kein Fleisch und keine Wurst essen, um Gott zu gefallen. Und sie schauen dabei nur auf sich selbst – so wie der Pharisäer im Tempel, über den ich vorhin gerade gepredigt habe. Nirgendwo im Evangelium verlangt Jesus solche Fasterei. Sie trägt auch nichts für das Miteinander in unserer Stadt bei. Wenn wir fröhlich und dankbar miteinander essen und trinken und viele dazu einladen, ist das viel mehr im Sinn des Evangeliums“.

Christian denkt eine Weile nach, dann sagt er langsam: „Was du gerade gesagt hast, das könnten wir doch eigentlich tun: Wir laden zur Fastenzeit zu einem fröhlichen Wurstessen hier in unserem Haus ein. Du, Ulrich, kannst uns einiges vom Evangelium dazu sagen. Wir essen und trinken und reden miteinander“. Ulrich meint: „Du weißt schon, dass das eine Menge Unruhe in unsere Stadt bringen wird“ und fügt dann gleich hinzu: „Aber wer etwas bewegen will, muss auch etwas wagen können“.

Einige Tage später versammeln sich etliche Gäste in Froschauers Haus. Zwingli hält eine kleine Rede: „Im Evangelium wird erzählt, wie sich Jesus mit seinen Jüngern über das jüdische Verbot hinweggesetzt hat, am Sabbat Nahrung zu beschaffen (Markus 2,23-28). Er hat auch gesagt: Man muss nicht so sehr achten, was in den Menschen hineinkommt, als das, was aus dem Mund herauskommt (Matthäus 15,11). Das beste Fasten ist deshalb der Verzicht auf böse Worte, auf Beleidigungen und Kränkungen. Deshalb wollen wir uns heute beim fröhlichen Wurstessen an diese biblische Regel halten und viel Gutes reden“. Und dann fügt er noch hinzu: „Die Fastenregeln sind nicht von Gott bestimmt, sondern von Menschen gemacht. Sie bringen uns Gott nicht näher. Gott aber will, dass wir in unserer Gemeinschaft ihm die Ehre geben und freundlich miteinander umgehen. Christen haben die Freiheit, Regeln für das Zusammenleben zu schaffen und auch wieder aufzuheben, wenn immer es notwendig ist. Niemand soll am Fasten gehindert werden und niemand darf dazu gezwungen werden“.

In Windeseile spricht sich dieses Ereignis in der Stadt herum. Die einen sind empört über diese Veranstaltung, mit der absichtlich geltende Gebote Recht missachtet wurden. Andere loben Zwingli, Froschauer und die Gäste für ihren Mut. Auch der Rat der Stadt befasst sich mit diesem Ereignis. Nach etlichem Hin und Her trifft er seine Entscheidung: „Die Fastengebote sind eine alte kirchliche Tradition. Sie haben niemandem Schaden zugefügt, darum sollen sie bleiben. Aber wer sie mit biblischer Begründung übertritt, schadet auch niemandem und wird deshalb nicht bestraft“. Als sich Ulrich Zwingli und Christian Froschauer über dieses Urteil unterhalten, meint Ulrich: „Das gefällt mir gut. Niemand soll zum Evangelium gezwungen werden. Vieles am Alten kann so bleiben wie es ist. Aber das Evangelium ruft zur Freiheit von frommen Zwängen auf. Und die ist mit der Entscheidung des Rats gegeben“. Christian meint dazu: „Na ja, ein Gebot, zu dem niemand gezwungen wird, ist in Wirklichkeit kein Gebot mehr. Du wirst sehen, im nächsten Jahr wird niemand mehr im Rat auf das Fastengebot pochen“. Und so war es dann auch.

Gesprächsanregungen

  • Für Zwingli war das Gespräch zur Bibel genauso wichtig wie die Predigt selbst. Warum wohl?
  • Kennst du Beispiele dafür, wo das Gespräch besser ist, als wenn nur einer redet?
  • In Jesu Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner geht es dem Pharisäer, der alle Gebote genau befolgt hat, zum Schluss schlechter als dem, der sie übertreten hat. Warum wohl? Ist das gerecht?
  • Zwingli hat das Wurstessen mit Jesu Worten aus der Bibel begründet. Kannst du dich noch erinnern, wie? Welcher Grund erscheint dir besonders wichtig?
  • Was könnte deiner Meinung nach ein Maßstab sein, mit dem man gute von weniger guten Regeln unterscheiden kann?
  • Fasten heißt, auf etwas verzichten zu können. Wo kann heutzutage Fasten sinnvoll sein? Welche Regeln sollten für es gelten?

Erzählung – Teil 2: Die Reformation in Zürich zieht ihre Kreise

Heute, ziemlich genau zwei Jahre nach dem Aufsehen erregenden Wurstessen, ist ein ganz besonderer Festtag in Zwinglis Pfarrhaus am Großmünster. Am Vormittag sind Ulrich und Anna Zwingli als Hochzeitspaar in der Kirche eingesegnet worden. Am Nachmittag sitzen die Gäste mit dem Brautpaar zusammen und es gibt viel zu erzählen. Aus Glarus, Zwinglis erster Gemeinde, in der er als Pfarrer tätig war, sind alte Freunde gekommen. Sie berichten von den alten Zeiten, als der junge 22jährige Priester zu ihnen kam und sie ihn wegen seiner freundlichen Art sehr geschätzt haben. „Er war schon damals ein gelehrter Herr“, erinnert sich einer der Gäste, „hat viel in seiner Studierstube gearbeitet, Bücher der großen Philosophen und Theologen in den alten Sprachen Latein und Griechisch gelesen. Er hat uns damals schon mit dem Neuen Testament vertraut gemacht und uns immer wieder erklärt, dass das Evangelium der einzige Maßstab unseres Glaubens sein muss. Schade, dass er dann nach zehn Jahren, es war 1516, nach Einsiedeln weitergezogen ist, um noch mehr Zeit für das Studium der Bibel zu haben“. „Wir werden ihn nie vergessen“, fährt ein anderer der Gäste aus Glarus fort, „wie er mit den Männern unserer Gemeinde, die nur mit dem Dienst als Soldaten Geld verdienen konnten, mit in den Krieg gezogen ist. Das hat er getan, um ihnen mit guten Worten beizustehen und sie in ihrer Not zu trösten. Ja, das ist lange her, und doch noch immer so nah!“

„Aber lasst und doch auch von Schönerem hören“, meint ein anderer der Gäste. „Anna, erzähl du doch, wie ihr euch kennen und lieben gelernt habt. Das gehört zu einer Hochzeitsfeier unbedingt dazu“. Und Anna erzählt: „Wie viele von euch wissen, ist vor sieben Jahren mein erster Mann gestorben. Ich weiß noch gut, wie Ulrich vor fünf Jahren neben uns eingezogen ist. Er hat sich so sehr um meinen damals zehnjährigen Gerold gekümmert, ihn als Hauslehrer unterrichtet und ihm viel geholfen, so dass er jetzt sogar an der Universität in Basel studieren kann“. Ulrich wirft ein: „Als wir in Zürich die Pestepidemie hatten, da hat mich Anna liebevoll gepflegt. Ohne sie hätte ich wahrscheinlich gar nicht überlebt. Und bald haben wir gewusst, dass wir beide füreinander bestimmt sind“. „Oh, oh“, ruft einer dazwischen, „ein Priester, der nach kirchlichem Recht nicht heiraten darf, mit seiner Geliebten, das kennen wir doch von so vielen“. „Ja, und deshalb“, fährt Ulrich fort, haben wir es anders gemacht. Wir haben uns im kleinen Kreis unter Zeugen die Ehe versprochen. Dann habe ich meinem Bischof in Konstanz einen Brief geschrieben. Ich habe ihn um Erlaubnis gebeten, mit kirchlichem Segen zu heiraten und gleich dazu auch um die Erlaubnis, das Evangelium so zu predigen, wie ich es ja schon getan habe. Aber ich habe bis heute keine Antwort bekommen“.

„Das war mutig“, sagt einer der Gäste aus Glarus. „Aber wie ging es dann weiter?“ Da schaltet sich ein Freund aus dem Rat der Stadt ein: „Es gab damals viel Unruhe in unserer Stadt. Anhänger des alten Glaubens und solche der neuen Lehre beschimpften und stritten sich auf offener Straße. Wir haben dann als Regierung unserer Stadt die Sache in die eigenen Hände genommen. Wir haben zu einem großen Religionsgespräch eingeladen. Dort sollten alle Theologen auf der Grundlage des Evangeliums erklären, was für sie richtig ist, damit der Rat entscheiden konnte, was gelten soll“.

„Das war ein großes Ereignis“, meldet sich einer der Gäste dazwischen. „Um die sechshundert Personen drängten zum großen Rathaussaal. Alle waren gespannt auf den Verlauf der Gespräche und auf das Ergebnis“. Der Freund aus dem Rat berichtet weiter: „Der Bischof hat seinen Generalvikar Fabri mit etlichen Beratern geschickt. Aber die wollten gleich zu Anfang das ganze Gespräch als ungültig erklären. Das hat viel Unmut und Ärger unter den Zuhörern erzeugt. Unser Ulrich aber hat sich sehr sorgfältig vorbereitet und so wurde das Ergebnis ein voller Erfolg für die Reformation. Seither ist der Rat der Stadt Zürich der Schutzherr der Reformation in unserer Stadt“.

Zwingli ergänzt: „Wir arbeiten gut zusammen. Wir schaffen vieles ab, was dem Evangelium nicht entspricht, etwa auch das Verbot der Priesterehe, die wir heute feiern. Wir gehen behutsam vor, wollen die altgläubigen Bischofsanhänger nicht bedrängen, aber doch auch Zürich zu einer evangelischen Stadt machen. Da gibt es noch viel zu tun“. „Ja, so soll es sein“, stimmen alle zustimmend ein.

„Jetzt aber genug mit unseren Reformationsereignissen“, ruft einer der Trauzeugen. „Lasst uns auf das Glück unseres Ehepaars anstoßen! Und dann bitten wir dich, lieber Ulrich, dass du uns eines von deinen wunderschönen Liedern und Melodien singst und spielst“. Das lässt sich Ulrich nicht zweimal sagen. Er wählt aus den zahlreichen Instrumenten, die er gut spielen kann, die Laute aus, singt das Hochzeitslied, das er zu diesem Festtag für seine Anna geschrieben hat, begleitet sich selbst dazu mit fein gezupften Lautentönen. Schnell lernen auch die anderen dieses Lied und singen es dann noch einmal gemeinsam mit vielen kräftigen Stimmen, begleitet von Ulrichs Musik.

Gesprächsanregungen

  • Einige von Zwinglis Freunden haben ihm vorgeworfen, warum er zuerst heimlich in aller Stille geheiratet hat und erst zwei Jahre später öffentlich in der Kirche. Wie begründen sie wohl ihren Vorwurf und wie wohl Zwingli seine Entscheidung? Was für ein freundschaftliches Streitgespräch mag sich da wohl entwickelt haben?
  • Eigentlich stand dem Bischof von Konstanz das Recht zu, in allen religiösen Angelegenheiten selbst zu entscheiden. Und Ulrich hatte dem Bischof bei seiner Priesterweihe Gehorsam gelobt. War es richtig, dass Zwingli sein Versprechen gebrochen hat und der Rat nun selbständig über religiöse Angelegenheiten entschieden hat? Was spricht dafür, was dagegen?
  • Zwingli hat mit seinen Predigten die Reformation in Zürich gut vorbereitet. An was konnte man das in den Ereignissen, die in Zürich geschahen, gut erkennen?
  • Zwingli wollte die Reformation nicht mit Gewalt durchsetzen. Wie hat er das wohl begründet?

Erzählung – Teil 3: Was stört die Gemeinschaft im Glauben?

Auf dem Weg hinunter in die Altstadt am Fluss wird Ulrich Zwingli von einem Mann angesprochen, den er vom Sehen her kennt. „Pfarrer Zwingli, ich war lange Zeit ein eifriger Besucher Eurer Gottesdienste und war von Euren Bibelpredigten sehr angesprochen. Aber jetzt muss ich Euch vorwerfen: Ihr haltet Euch selbst nicht genau an die Worte der Schrift“. Ulrich runzelt die Stirn und schaut fragend. Der andere redet weiter: „In der Bibel steht nirgendwo, dass schon kleine Kinder getauft werden sollen. Erst wenn sich Menschen ausdrücklich zu Jesus Christus bekennen und bereit sind, mit ihm ein neues Leben zu beginnen, sind sie bereit zur Taufe. Wir sind der Meinung, dass die Taufe kleiner Kinder ungültig ist. Bei uns werden Erwachsene mit der Glaubenstaufe getauft. Wir sind die besseren Reformatoren. Wir führen die Reformation zu ihrem richtigen Ziel“.

Ulrich widerspricht: „Es genügt nicht, die Bibel Wort für Wort in unsere Zeit zu übertragen. Wir legen die Bibel so aus, dass wir Jesu Botschaft erkennen, die in seinen Worten steckt. Und da ist es ganz klar, dass Jesus allen Menschen, die zu ihm kommen oder gebracht werden, Gottes Liebe spüren lässt. Das gilt auch schon für die ganz kleinen Kinder. Das können wir zum Beispiel in der Geschichte sehen, in der Jesus die Kinder zu sich ruft und sie segnet“ (Markus 10,13-16).

Ein anderer Mann ist dazu getreten und schaltet sich in das Gespräch ein: „Pfarrer Zwingli, das mit dem Spüren der Nähe Gottes ist auch uns ganz wichtig. Ihr habt ja selbst gesagt, dass nicht die Kirche mit ihren Lehren, sondern der Heilige Geist selbst uns lehrt, wie wir Gott ganz nahe sein können. Deshalb brauchen wir nicht die großen Kirchen, in denen sich das Volk der Stadt versammelt. Wir leben in kleinen Gemeinschaften, in denen wir gemeinsam zu Gott rufen und dann spüren, wie der Heilige Geist zu uns kommt. Wir brauchen auch keine klugen Reden und Predigten über die Bedeutung von Bibelworten mehr, sondern der Heilige Geist spricht dann selbst in uns zu uns. Wir teilen das einander mit und stärken uns so wechselseitig in unserem Glauben. Pfarrer Zwingli, Ihr seid mit Eurer Reformation auf halbem Wege stehen geblieben!“

Nachdenklich geht Ulrich nach Hause und erzählt seinem Freund und engsten Mitarbeiter Leo von der Begegnung. Der antwortet: „Es bilden sich in unserer Stadt immer mehr solche Grüppchen, die von sich behaupten, die wahren Christen zu sein. Sie sondern sich ab und wecken zugleich in den anderen Zweifel an ihrem Glauben, wie wir ihn predigen. Sie bringen Unruhe in unsere Stadt. Mit gutem Grund leiten wir unsere Christen zum Verstehen der Bibel an und taufen schon kleine Kinder. Wir haben unsere Zeit und Kraft dafür eingesetzt, dass die Bürger unserer Stadt, die Männer, Frauen und Kinder das Evangelium von Jesus Christus als befreiende Botschaft annehmen. Sie sollen befreit sein von dem Zwang, sich Gottes Gnade mühsam erarbeiten zu müssen. Wir haben daran gearbeitet, dass dieser Glaube zu einem Band wird, das alle Menschen in unserer Stadt zusammenhält und uns alle miteinander verbindet. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Gruppen, die nur sich selbst als die wahren Christen fühlen, dieses Band zerreißen!“

Ulrich nickt zustimmend, und so tragen die beiden diese Gedanken dem Rat der Stadt vor. Die Ratsmitglieder hören aufmerksam zu. Einige weisen darauf hin, dass Leute dieser neuen Gemeinden bereits Gottesdienste gestört, auf den Straßen gepredigt und so für Unruhe und Verwirrung gesorgt haben. Um das zu unterbinden, fasst der Rat bald darauf den Beschluss, dass Kinder bis zum achten Lebenstag getauft werden müssen und Unruhestifter eingesperrt werden oder die Stadt verlassen müssen. Zwingli verpflichtet sich, eine Schrift zum Verständnis der Taufe zu verfassen und ein Religionsgespräch mit den Kindertaufgegnern vorzubereiten und durchzuführen. Und so geschieht es.

Als Zwingli auf der Straße wieder ein Mitglied der neuen Gemeinden trifft, meint der vorwurfsvoll zu ihm: „Pfarrer Zwingli, als Ihr die Reformation in unsere Stadt gebracht habt, da habt Ihr die Freiheit des Glaubens verkündet. Ihr habt Euch mit Recht gegen die Verbote des Bischofs von Konstanz gewehrt und der Rat der Stadt hat laut verkündet, dass Andersdenkende nicht verurteilt werden dürfen. Genau das Gegenteil geschieht jetzt mit uns. Wir werden zum Schweigen verurteilt oder aus der Stadt vertrieben. Ist das Euer Evangelium von der Liebe Gottes?“

Dieser Vorwurf macht Zwingli sehr zu schaffen. „Es geht uns doch um die frohe Botschaft, um das Evangelium für alle Menschen“, sagt er immer wieder zu seinem Freund Leo. Und der ergänzt: „Es muss die frohe Botschaft für alle Menschen in unserer Stadt und das ganze Land sein und bleiben – das große Band, das uns zusammenhält und uns hilft, in Gerechtigkeit und Frieden miteinander zu leben. Lieber Ulrich, unsere Aufgabe ist es, dieses Band stark zu halten durch die Klarheit, mit der wir das Evangelium verkünden. Wir haben noch eine Menge zu tun“.

Und so machen sich die beiden zusammen mit vielen Gleichgesinnten weiter an die Arbeit. Zwingli verfasst Schriften zum Verständnis der Taufe. Für das gemeinsame Leben in der Stadt im Zeichen des Evangeliums werden Regeln erarbeitet. Der Rat der Stadt sorgt dafür, dass die Armen genug zum Leben haben. Zwingli predigt, wie wichtig die Nächstenliebe für ein gutes Miteinander ist. Schulen werden eingerichtet und Zwingli arbeitet an Unterrichtsbüchern für die Lehrpersonen, für die Schülerinnen und Schüler. Am Großmünster wird eine Schule für Erwachsene eingerichtet, in der unter Zwinglis Anleitung die Pfarrer von Zürich und Umgebung gute Ratschläge zum guten Predigen und Feiern der Gottesdienste bekommen.

Wieder einmal sitzen die beiden Freunde Ulrich und Leo zusammen und beraten, wie es mit der Reformation in Zürich weitergehen kann und soll. Leo meint: „Martin Luther hat für uns alle eine wunderbare Bibelübersetzung in deutscher Sprache geschenkt. Aber unsere Schweizer Landsleute haben Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Wir brauchen eine Übersetzung in unseren alemannischen Dialekt, den wir hier sprechen. Auch das kann ein wichtiges Band für die Anhänger der neuen Lehre in unserem Land sein“. Ulrich nickt und ergänzt: „Wir sollten noch weitergehen. Die Luther-Bibel lebt von der besonderen Sprachkraft dieses großen Reformators. Sie ist sein Werk. Wir haben hier in Zürich unseren eigenen Weg zum Verstehen der Bibel gefunden. Jeden Tag studieren wir im Großmünster mit Pfarrern und Studenten die Bibel, suchen gemeinsam die richtigen Worte. Das könnte das besondere Kennzeichen unserer Züricher Bibel werden: ein Gemeinschaftswerk von Züricher Bibelübersetzern“.

Fünf Jahre lang arbeitet die Gruppe der Übersetzer. Und dann endlich ist das große Werk fertig. Christoph Froschauer, der Buchdrucker und Freund Zwinglis, lädt zu einem Fest in seine Druckerei ein – dorthin, wo vor sieben Jahren das besondere „Wurstessen“ stattfand. Feierlich nimmt Christoph die erste fertig gedruckte Züricher Bibel aus seiner großen Druckmaschine und überreicht sie unter dem Beifall aller Gäste Ulrich Zwingli. Christoph bittet Gott um seinen Segen für alle, die in den vielen nun entstehenden Bibelbüchern lesen werden. Und dann erzählt er noch von seinen Plänen: „Im nächsten Jahr will ich zu den großen Buchausstellungen in Frankfurt und Leipzig eine große Bibelausgabe mit vielen Bildern fertig gedruckt haben, denn viele Geschichten kann man sich besser merken, wenn es Bilder dazu gibt. Da haben wir in unserer Druckerei noch viel zu tun!“

Ulrich meint dazu: „Dir und auch uns wird die Arbeit nicht ausgehen, denn wir werden unsere Bibelübersetzung immer wieder überprüfen und verbessern und so wirst du auch immer wieder neue Züricher Bibeln zu drucken haben“.

Gesprächsanregungen

  • Die sogenannten „Wiedertäufer“ erklärten die Kindertaufe für ungültig. Was waren ihre Gründe dafür und was meinst du dazu?
  • Streit gab es auch um das richtige Verständnis des Evangeliums. Einige meinten, wenn Gottes Heiliger Geist in den Menschen wirkt, dann müssten sie sich nicht mehr damit abmühen, die Bibel zu lesen und sie richtig zu verstehen. Was meinst du dazu?
  • Für Zwingli soll der Glaube an die frohe Botschaft der Bibel wie ein Band sein, das alle Stadtbewohner, sogar die Menschen im ganzen Land miteinander zu einer großen Gemeinschaft verbindet. Was müsste deiner Meinung nach dieses Band in den Menschen bewirken?
  • Zwingli war es sehr unangenehm bei dem Gedanken, dass der Rat der Stadt um der Ordnung willen all denen mit Strafen gedroht hat, die im Glauben ihre eigenen Wege gehen. Warum wohl hatte er ein schlechtes Gefühl dabei? Wie beurteilst du diese Regel des Züricher Rats?
  • Christoph Froschauer hat in den folgenden Jahren viele Bibeln mit Holzschnitt-Bildern gedruckt. Sind auch dir Bilder in der Bibel wichtig und warum?
  • Mit der gedruckten Bibel war für Zwingli die Übersetzungsarbeit nicht zu Ende. Er kündigte Verbesserungen an. Warum wohl waren solche Verbesserungen nötig, obwohl doch so viele Bibelkenner jahrelang mit großer Hingabe an der Übersetzung der Bibel aus der hebräischen und griechischen Sprache gearbeitet haben?

Literaturhinweis:

Ulrike Strerath-Bolz: Ulrich Zwingli. Wie der Schweizer Bauernsohn zum Reformator wurde

 

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