Das Ulmer Münster - ein gotischer "Himmel auf Erden"

 

 

Vorüberlegungen

Diese Erzählung führt uns in die mittelalterliche Freie Reichsstadt Ulm. Die etwa 5000 Einwohner wagen ein gewaltiges Projekt – den Bau einer „Bürger-Kathedrale“. Sie gewinnen dazu für die Phase nach Baumeistern aus der Parler-Dynastie ab 1392 Ulrich von Ensingen, auch ein herausragender Baumeister. Er konnte in Prag Erfahrungen sammeln, als er am Bau des Straßburger Münsters mitwirkte. Zugunsten der Ulmer schlug er Berufungen unter anderem nach Mailand aus.

Von der Ankunft Ensingens in Ulm erzählt die Geschichte. Auch in ihr geht es um den Leitgedanken dieser Woche um den Himmelfahrtstag: das Leben mit beflügelnden Himmelsvorstellungen, wie sie in Kirchenbauwerken anschaulich geworden sind. Das geschieht hier mit dem Akzent auf weitere wichtige Merkmale der Gotik: das Streben in die Höhe, durchscheinende Wände statt dicker Mauern, Spitzbögen, feingliedrige Steinmetzarbeiten. Indem uns die Erzählung zum Bauplatz des Ulmer Münsters führt, wird zugleich deutlich, wie sich solche Bauprojekte über etliche Generationen erstreckten.

 

Erzählung

Erst vor wenigen Wochen – es ist das Jahr 1392 – hat Ulrich von Ensingen als neuer Münsterbau-meister der freien Reichsstadt Ulm seine Wohnung nahe bei der großen Baustelle bezogen. Fast jeden Tage ist er bei den Maurern, Steinmetzen, Fuhrleuten und Lastenträgern zu sehen - dort, wo schon seit fünfzehn Jahren die Mauern für den Altarraum der Kirche, den Chor, emporwachsen. Auch heute ist er wieder bei den Handwerkern und schaut nach dem Rechten. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt den Steinmetzen. Sie bringen die Steinblöcke genau in die Form, so wie sie für die Chorwand benötigt werden. „Ist genug Vorrat da?“, fragt er den Steinmetzmeister, und der antwortet: „Die Kähne mit den bestellten Steinblöcken liegen schon am Donauufer zum Entladen bereit. Pferdegespanne, Wagen und die Holzknechte sind unterwegs, um die Steine hierher zu bringen“. „Gut so“, lobt Baumeister Ulrich. Ein Mitglied des Stadtrats, Matthäus Neidhart, kommt gerade vorbei und begrüßt Ulrich von Ensingen. Dem erklärt der Baumeister anhand der Arbeiten einiges zu dem neuen Baustil der Gotik: „Früher hat man dicke Kirchenwände gemauert, mit kleinen Fenstern. Heutzutage bauen wir die Mauern so leicht wie möglich, mit viel Platz für Fenster, die von unten bis zur Decke reichen. Denn hell soll es in der Kirche sein, damit sich die Blicke himmelwärts nach oben richten können“. Neidhart nickt aufmerksam und von Ensingen erklärt weiter: „Säulen müssen jetzt die Last des Kirchengewölbes tragen. Bei ihnen kommt alles darauf an, dass die Steine ganz genau aufeinanderpassen.

Sie sollen schlank und schön die Wände gliedern. Wie aus einem Guss sollen sie dastehen, genau so, wie man sie braucht: Genau in der richtigen Dicke, eckig oder halbrund in die Wand eingepasst. Für jede Art der Säulen fertigen wir ein Muster, eine Schablone aus dünnem Material“. Der Steinmetzmeister nimmt das Gespräch auf und fährt fort: „Die wird auf den rohen Steinblock gelegt, und so wird genau angeritzt, wie der Stein zu behauen ist. Am schwierigsten ist es, wenn sich die Säule oben in das Gewölbe hinein verzweigt. Dann wird sich von ihr aus ein feines Netz von steinernen Rippen ausspannen, das die Blicke nach oben richtet. Wenn da ein Fehler passiert, kracht alles zusammen. Bald sind wir bei unserem Münster so weit, dass wir uns dem ersten Gewölbebögen widmen können.“

„Warum sagt ihr eigentlich ‚Münster‘ zu der Kirche?“, fragt Ulrich. „Es ist doch keine Klosterkirche, kein „Monasterium“ das hier entsteht. Man könnte sie doch eher einen Dom nenen, ein „Domus“, ein großes Haus für Gott.“ Matthäus Neidhart drängt: „Wir sollten jetzt rasch weiter zum Bürger-meister zur Besprechung mit ihm. Der kann das dann in Ruhe erklären“. Die beiden verabschieden sich vom Steinmetzmeister, werfen noch einen kurzen Blick auf eine der großen Mauersäulen und das leichte Mauerwerk dazwischen, auch auf das Baugerüst, das wie ein Schwalbennest oben an der Säule befestigt ist. Sie sehen die Stange mit einer Rolle daran, die aus ihm ragt, samt einem langen Seil, an dem gerade wieder einer der fertig behauenen Steine nach oben gezogen wird. Doch weiter geht es jetzt zum Rathaus.

Bürgermeister Lutz Krafft begrüßt die beiden. Auch andere Ratsherren sind schon in der Ratsstube versammelt. „Gerne nutze ich die Gelegenheit“, beginnt der Bürgermeister, unserem neuen Bau-meister zu berichten, was bisher geschehen ist. Dass wir einen so gewaltigen Neubau begonnen haben, das hat mehrere Gründe. Unsere bisherige Stadtkirche liegt außerhalb der Stadtmauern. Wir wollen sie ins Herz unserer Stadt holen. Sie soll der Mittelpunkt unseres Stadtlebens sein und uns in der Geschäftigkeit des Alltags dabei helfen, etwas von Gottes Himmel auf unsere Erde zu holen. Wir brauchen die ständige Erinnerung daran, wie wichtig Gottes Himmel für uns ist.“ „Aber warum soll die neue Kirche gar so groß werden?“, fragt Ulrich von Ensingen zurück. Der Bürgermeister antwortet: „Unsere bisherige Stadtkirche ist dem Kloster Reichenau am Bodensee unterstellt. Deswegen sagen wir auch Münster zu ihr. In langen Verhandlungen sind wir nun fast so weit, dass wir dieses Patronatsrecht dem Kloster, auch mit Einwilligung des Bischofs von Konstanz, abgekauft haben. Sie ist jetzt ganz und gar unsere eigene Kirche“. Einer der Räte ergänzt: „Aber wir sagen trotzdem noch gerne Münster zu ihr.“

„Ein anderer Grund ist“, fährt Bürgermeister Krafft fort, „dass unsere freie Reichsstadt Ulm in den zurückliegenden Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat. Unter den Reichsstädten im Süden Deutschlands kommen uns immer mehr Führungsaufgaben zu. Das soll auch in unserem Stadtbild sichtbar werden. Unsere Stadt ist wohlhabend geworden. Fleißige Leineweber haben die von ihnen hergestellten Barchent-Tücher im ganzen Land bekannt gemacht. Der Handel gedeiht, sowohl am Donauhafen als auch weil sich bei uns wichtige Handelsstraßen kreuzen. Dieser Segen soll uns auch immer wieder dazu bringen, dankbar den Blick zu Gott im Himmel zu richten und ihm zu danken“. Einige der Räte melden sich auch noch zu Wort und bestätigen das Gesagte aus ihrer Sicht.

Dann kommt Bürgermeister Krafft mit einem Auftrag an Baumeister Ulrich zum Schluss: „Meister Ulrich, Ihr seid als hervorragender Baumeister im ganzen Land bekannt geworden. Dass Ihr andere Angebote ausgeschlagen habt und zu uns nach Ulm gekommen seid, das ehrt uns. Ihr habt die Aufgabe übernommen, alles dafür zu tun, dass unser neues Münster dem Ziel, von dem ich gerade gesprochen habe, so gut wie möglich gerecht wird. Es soll unsere Blicke und Gedanken nach oben lenken und uns Gottes Licht spüren lassen. Es soll uns innerlich erheben, in uns die Freude auf Gottes Himmel wecken, schön sein und in allen seinen Teilen Gott die Ehre geben.“

Auf dem gemeinsamen Heimweg sprechen Meister Ulrich und Rat Neidhart noch weiter zu dem, was im Rathaus gesprochen wurde. Ulrich gibt zu bedenken: „Sind denn die Ulmer Bürgerfamilien überhaupt in der Lage, das nötige Geld für diesen gewaltigen Bau aufzubringen?“ Neidhart antwortet: „Davon bin ich fest überzeugt. Diese Kirche wird unsere Bürgerkirche sein. Für keinen Bischof mit seinem Bischofsstuhl, seiner ‚Kathedra‘, wird sie Kathedrale werden. Unsere Pfarrer stammen aus Ulmer Familien. Alle helfen nach ihren Möglichkeiten zum Bau mit. Wir Patrizierfamilien bringen viele Spenden ein. Waldbesitzer stiften das Bauholz für die Gerüste. Handwerker opfern ihre Zeit für das Heranschaffen der Steine und anderer Baumaterialien. Das schweißt uns zusammen. Vor 15 Jahren war die feierliche Grundsteinlegung. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir Ratsherren mit unseren goldenen Ketten neben dem Bürgermeister standen, als er den Grundstein einmauerte. Da war uns allen klar: „Der Bau des Münsters wird gelingen. Es wird so schön wie die prächtigsten Bischofskathedralen werden“. Nach einer kurzen Pause fügt Neidhart noch an: „Wir verlassen uns alle auf Eure hochgerühmte Baukunst!“

Später steht Meister Ulrich wieder in seiner Bauhütte, studiert Pläne und fertigt Zeichnungen an, mit denen er dem Rat seine Vorhaben erläutern kann. „Wie in Himmel sollen sich die Menschen erhoben fühlen“, murmelt er immer wieder vor sich hin. „Alles soll leicht wie nach oben schweben.“ Er zeichnet das Kreuzrippengewölbe für den Chor, samt dem Schlussstein, Spitzbögen im Mauerwerk, Bilder von Steinfassungen der Fenstern, dem ‚Maßwerk‘, in dem sich Kreise und Ovale unter dem Spitzbogen zusammenfinden. Dann legt er zufrieden den Zeichenstift zur Seite. Kurz darauf holt ihn seine Frau ab. Ulrich zeigt ihr noch seine Zeichnungen und sagt: „Die sind vor allem für den großen Chorraum. In wenigen Jahren muss er zumindest notdürftig soweit fertig sein, Maßwerk dass in ihm die Messe gefeiert werden kann.“

Und wie geht es dann weiter?“, fragt seine Frau zurück. Ulrich antwortet: „Dann kommt dann kommt das große Hauptschiff samt dem Eingang im Westen mit dem Turm dran.“ Er kommt ins Grübeln, seine Frau stört ihn nicht dabei. Dann bricht es aus ihm heraus: „Ich habe eine Idee! Eine große Halle, wie sie meine Vorgänger geplant haben, wirkt immer noch zu schwer. Ich will ein schlankes Mittelschiff bauen lassen, mit Säulen von den niedrigeren Seitenschiffen getrennt. Und das soll so hoch sein, wie es nur irgendwie geht, über vierzig Meter hoch. Zwischen den Säulen sollen steile Spitzbögen sein. So kann die Kirche, noch mehr als alle Kirchen, die ich kenne, ein Stück Himmel mitten in der Stadt sein.“

Ulrich redet sich in Fahrt: „Der Turm über dem Eingang soll höher sein als alle Türme, die bisher ge-baut wurden, vielleicht sogar viermal so hoch wie das Mittelschiff. Schon von außen soll viel vom Himmel in diesem Gotteshaus zu ahnen sein, mit solch einem Turm, der in den Himmel weist. Er soll nicht mit Backsteinen gebaut werden, sondern ein luftiges Netz von Säulchen zeigen, das sich nach oben hin immer mehr verengt und in einem spitzen Helm endet. Außerdem sollen außen am Dach der Kirche viele kleine Türmchen sein, die die Kirche zieren“.

Am nächsten Tag steht Ulrich wieder an seinem Arbeitstisch und zeichnet das, was er gestern seiner Frau berichtet hat. Zu den bisherigen Zeichnungen kommen nun solche zu den aus Stein zu hauenden Verzierungen dazu: die wie mit Blütenknospen verzierten Türmchen, die ‚Fialen‘, auch die ebenso geschmückten Dreieckspitzen über den Spitzbögen, die ‚Wimpergen‘, und natürlich eine Skizze zu dem großen Turm.
Wenige Tage später legt er der Ratsversammlung seine neuesten Ideen und Pläne vor und sagt: „So lässt sich mein Auftrag noch besser verwirklichen, den Ulmer Bürgern und allen Gästen mit dem Münster ein Stück Himmel mitten in unserer Stadt zu schenken.“ Beeindruckt schweigen die Ratsmitglieder eine Weile, dann folgen Fragen: „Mit diesen Plänen haben die Steinmetze ja unglaublich viel zu tun. Ist das überhaupt zu leisten?“

Ulrich erklärt: „Da wir neuerdings die Bau-hütte beheizen können, werden die Steinmetze auch im Winter arbeiten und dabei gleichsam auf Vorrat nach genauen Plänen die erforderlichen Steine herstellen können, bis dann im Frühjahr wieder der gesamte Baubetrieb beginnt“. Ein anderer wirft die Frage auf: „Mit welchem Zeitraum bis zur endgültigen Fertigstellung des ganzen Münsters ist wohl zu rechnen?“ Da ergreift der Bürgermeister selbst das Wort und erklärt: „Es muss uns allen klar sein, dass wir nicht für uns, sondern für unsere Nachkommen bauen. Wahrscheinlich müssen wir mit hundert Jahren und für den großen Turm sogar noch länger rechnen. Mit diesem Kirchenbau zeigen wir unsere Verantwortung für die Generationen, die nach uns kommen“. Stumm nicken die meisten Ratsmitglieder zustimmend. „Ach, ich würde so gerne in die Zukunft schauen“, sagt Ulrichs Frau am Abend, nachdem der Baumeister ihr von den Gesprächen im Rat der Stadt berichtet hat.

 

Wir im 21. Jahrhundert können zurückschauen auf die Entstehungsgeschichte des Ulmer Münsters. 1471, nach fast achtzig Jahren Bauzeit, war die Wölbung des Mittelschiffs vollendet. Um 1529 wurden die Bauarbeiten am Turm im Zuge der Veränderungen durch die Reformation eingestellt.
Erst Ende des 19. Jahrhunderts, also etwa 500 Jahre später, wurde der Turm vollendet. Mit seinen 161 Metern ist er auch heute noch der höchste Kirchturm der Welt.

 

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