Martin Rinckardt und sein Dank-Lied

Vorüberlegungen
Zu den bekanntesten Kirchenliedern gehört auch das Danklied von Martin Rinckardt: „Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen…“. Als Zeitgenosse von Paul Gerhardt hat auch er die lange Zeit des Dreißigjährigen Krieges mit durchlebt und durchlitten. Und wie er hat die Familie Rinckardt viel Not und Tod erleben müssen.

Die Erzählung führt anhand seiner Berufung zum Pfarrer in seiner Heimatstadt Eilenburg kurz in Rinckardts bisherigen Lebensweg ein, hebt dabei seine musikalischen Fähigkeiten hervor und führt weiter zur Hundertjahrfeier des Augsburger Bekenntnisses 1630, die auch der Anlass zu dem Lied war. Kurz wird abschließend auch eine Blick auf die weitere Verbreitung des Liedes geworfen, vom Danklied zum Westfälischen Frieden 1648 zu den wiederkehrenden Anlässen beim Jahreswechsel und persönlichen Übergangssituationen zu Neuem. Ausgeklammert bleiben die Jahre nach 1630, in denen auch die Stadt Eilenburg durch marodierende Söldnergruppen, Hunger und Pest hart getroffen wurde.

 

Erzählung
„Martin, eine Nachricht ist für dich überbracht worden“, ruft Christina und winkt mit einem Brief. Ihr Mann, der Pfarrer Martin Rinckardt im kursächsischen Erdeborn im Mansfelder Land, kommt gerade von der Kirche herüber zum Pfarrhaus. „Wer schreibt denn?“, ruft er zurück und Christina antwortet: „Vom Konsistorium in Eilenburg“. Jetzt macht Martin schnellere Schritte und ruft: „Aus meiner geliebten Heimatstadt! Was die mir wohl mitzuteilen haben? Ob sie mir eine der Pfarrstellen anbieten?“ Jetzt ist er da, nimmt den Brief in Empfang und liest hastig den einen oder anderen Satz seiner Frau vor, die erwartungsvoll neben ihm steht und so gut wie möglich hineinspitzt. Die erste große Zeile mit dem Absender kann sie erkennen: „Kuratorium der Stadt Eilenberg, im Juli 1617. Dann erklärt Martin: „Ich habe dir doch schon erzählt, dass der Archediakonus Schalitz verstorben ist. Jetzt bietet mir Superintendent Leyser schon für den kommenden Sonntag eine Gastpredigt an. Das könnte gut eine Probepredigt sein“. Er lacht und umarmt seine Christina: „Das wäre doch wunderbar, wenn nun aus meiner alten Heimat auch die neue für uns werden könnte!“

In den nächsten Tagen ist Martin ausgiebig mit der Vorbereitung dieser Predigt beschäftigt. Stück um Stück baut er sie nach den Leitgedanken der Theologie Luthers auf und murmelt vor sich hin: „Ja, so kann ich zeigen, dass ich fest auf dem Boden der lutherischen Lehre stehe“. Bei den Mahlzeiten ist Eilenburg nun das große Gesprächsthema. „Luther ist mehrfach in Eilenburg gewesen“, erklärt Martin. „Er hat sich mit seinen Mitarbeitern sehr um den Aufbau eines guten Schulwesens gekümmert“. Und wieder einmal kommt er ins Erzählen von seiner Kindheit: „Ich war gerne in der Schule, und am liebsten war mir die Musik. Auch zu Hause haben wir viel gespielt und gesungen, auch mehrstimmig. Luther selbst hat uns ja einen großen Schatz an Liedern mitgegeben. Martin muss sich zügeln, damit seine Gedanken nicht zu sehr an seinen Kindheitserinnerungen hängenbleiben.

Der Sonntag ist da. Martins Predigt findet Anklang. Am folgenden Tag sitzen Mitglieder des Rats der Stadt mit den Pfarrern, auch dem Stadtschreiber und dem Schulrektor zusammen und besprechen schon Einzelheiten zum Wechsel von Pfarrer Rinckardt von Erdeborn nach Eilenburg. Der Rektor erklärt: „Pfarrer Rinckardt, Ihr habt ja neben Eurem Theologiestudium auch in der Dichtkunst großes Ansehen erworben. Ich darf daran erinnern“, und er wendet sich auch an die anderen in der Runde“, dass unser neuer Pfarrer durch unseren Pfalzgraf zum Dichterkönig gekrönt wurde. Er hat mit seiner Berufung an das Gymnasium in Eisleben Latein unterrichtet, auch Musik und hat den Kantorendienst geleistet. Die Fähigkeit dazu hat er sich als Schüler und Student an der Thomasschule in Leipzig angeeignet“. Er fordert Martin mit einem Kopfnicken auf, selbst weiterzuerzählen, und der ergänzt: „Der bekannte Thomaskantor Seth Calvisius hat mich auch in die Kunst des Komponierens eingeführt. Ich durfte als Präzeptor den Gesang einzelner Chorgruppen leiten – sonntags waren ja immer mehrere Gottesdienste mit dem Gesang zu gestalten“. Der Rektor fügt an: „Da werden sich die Mitglieder unserer Stadtkantorei schon auf Gesänge aus Eurer Feder freuen!“

Ein Dutzend Jahre später sitzen Martin und Christina wieder einmal am Abend nach der Tagesarbeit zusammen und lassen ihre Gedanken wandern. „Bald ist der Gedenktag der Entstehung des Augsburger Bekenntnisses vor genau hundert Jahren“, sagt Martin. „Das gilt es würdig zu feiern. Immerhin ist es die Grundschrift, die alle Gemeinden der lutherischen Reformation zusammenhält“. Christina wendet ein: „Passt denn das Feiern in diese Zeit, in der wir leben? Als vor zehn Jahren die ersten böhmischen Glaubensflüchtlinge auch durch Eilenburg zogen, wer hätte damals gedacht, dass der Krieg sich so endlos hinzieht. Jetzt dauert er schon über das zehnte Jahr hinaus. Und kein Ende ist in Sicht“. Martin nickt und fügt nachdenklich an: „Bisher ist unsere Gegend ja zum Glück weitgehend von Kriegswirren verschont geblieben. Ob das so bleibt, weiß niemand von uns. Es sieht nicht gut aus.“ Er macht ein Pause und spricht dann weiter: „Aber sollten wir nicht auch auf das schauen, was wir an Gutem erleben durften und mit dem wir hoffnungsvoll in die Zukunft blicken?“

Christina nimmt den Faden auf: „Wir haben so viel Tod in unserer kleinen Familie erleben müssen: vier Kinder und deine Mutter hat Gott uns genommen. Das war schwer, sehr schwer. Aber Gott hat uns auch drei Kinder geschenkt, an denen wir uns freuen dürfen, für die wir Gott von Herzen danken können“. Sie hält inne und fügt an: „Ja, wir sollten auch in schwerer Zeit das Danken nicht vergessen. Wenn es nicht mehr selbstverständlich ist, dass wir in geordneten Bahnen leben dürfen, bekommt gerade das besonderes Gewicht, das uns auch inmitten der Not Freude schenkt“.

Martin nickt und spricht weiter: „Mit solchen Gedanken sollten wir das Bekenntnisfest feiern. Denn was uns Gott mit dem wiedergefundenen biblischen Glauben geschenkt hat, das ist es wohl wert, ihm dafür zu danken und ihn zu loben und dabei an all das zu denken, was Licht und Freude in unser Leben bringt“. Dann ergänzt er noch: Ich habe mir schon einiges überlegt zu dem Reformationsjubiläum. Auch ein neues Lied sollte dabei sein. Aber dazu habe ich noch keine Idee“.

Wie jeden Tag sitzen auch heute wieder die Mitglieder der Familie Rinckardt zum Mittagessen beisammen. Das Tischgebet hat die Mahlzeit eingeleitet und ein Dankgebet beschließt es auch. Gemeinsam sprechen alle die biblischen Worte: „Nun danket alle Gott, der große Dinge tut an allen Enden, der uns vom Mutterleibe an lebendig erhält und tut uns alles Gute. Er gebe uns ein fröhliches Herz und verleihe immerdar Frieden zu unseren Zeiten, in Israel, und dass seine Gnade stets bleibe, und erlöse uns, solange wir leben. Amen“. „Eigentlich wäre es schön, wenn wir unser Schlussgebet auch singen könnten“, bemerkt die Mutter. Da blitzt in Martin eine Idee auf. Er denkt mit dem Tischgebet auch an den Reformationsgedenktag. Gleich zieht er sich in seine Arbeitsstube zurück und schreibt auf, was in ihm nun Wort für Wort Gestalt gewinnt. Die ersten beiden Strophen kommen rasch zustande:

Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen,
der große Dinge tut an uns und allen Enden,
der uns von Mutterleib und Kindesbeinen an
unzählig viel zugut bis hierher hat getan.

Der ewigreiche Gott woll uns bei unserm Leben
ein immer fröhlich Herz und edlen Frieden geben
und uns in seiner Gnad erhalten fort und fort
und uns aus aller Not erlösen hier und dort“.

Dann zögert er – und denkt jetzt von dem Tischgebet weg und hin zum bevorstehenden Fest und wie in jedem Gottesdienst der Psalmengesang immer mit dem Lobpreis des dreieinigen Gottes endet. Nach kurzer Besinnung nimmt er wieder den Stift und schreibt weiter:

Lob, Preis und Dank sei Gott dem Vater und dem Sohne
und Gott dem Heilgen Geist im höchsten Himmelsthrone,
ihm, dem dreiein’gen Gott, wie es im Anfang war
und ist und bleiben wird so jetzt und immerdar.

Zufrieden legt er den Stift beiseite. Jetzt ist er ganz und gar bei dem kommenden festlichen Geschehen. Christina tritt ein. Sie hatte gespürt, dass in Martin eine zündende Idee wach wurde und ist neugierig, ob schon etwas daraus wurde. Gerne erzählt ihr Martin, wie er von dem Tischgebet weitergedacht hat zum Fest. Sie stößt ihn ihm noch Weiteres an: „Die Musikanten der Stadtkantorei erwarten von dir bestimmt auch einen für das Jubiläum komponierten Gesang. Meinst du, ob so etwas aus deinem Gedicht werden könnte?“ Martin nickt und erklärt: „Ja, für sie will ich das Gedicht als mehrstimmiges Lied gestalten. Ich will es in der Art tun, wie Luthers Freund Johann Walter und auch andere nach ihm Lieder für den Chor geschrieben haben: eine kräftige Tenorstimme führt die Melodie, und die anderen Stimmen ranken sich darum herum“. Martin ist damit sehr zufrieden und macht sich gleich an die musikalische Arbeit. Er summt Melodiebögen vor sich hin, in denen sich eine einfache Tonfolge für den Tenor herausschält, als Stütze für den gesamten Chorklang. Das Fest kann kommen.

Dann ist es soweit. Die Kantorei macht genau das hörbar, was Martin Rinckardt so wichtig ist: eine kräftige Melodiebewegung wie ein dickes Klangband, ohne Sprünge, sondern in einfachen Tonschritten, umwoben von leicht sich bewegenden Melodieranken. Zufrieden bemerkt Martin, wie die Melodie nicht nur den Sängern, sondern auch den Zuhörern rasch ins Ohr geht.

Viel zu schnell geht es wieder zurück in den Alltag. Das Kriegsgeschehen ist erneut das, was alle bewegt. Immer wieder ziehen Heerhaufen auch durch Eilenburg, verbreiten Angst und Schrecken, rauben sich zusammen, was sie finden. Es folgt eine schlimme Zeit des Hungers, und dann bricht auch noch die Pest aus. Viele fliehen aus der Stadt. Von den drei Pfarrern ist Martin Rinckardt bald nur noch der einzige, der bleibt und viel damit zu tun hat, den Menschen in all ihrer Not beizustehen. Das Danklied rückt weit weg, wird von den meisten auch bald vergessen.

Zehn Jahre später, um 1640, arbeitet Johann Crüger, Kantor an St. Nicolai in Berlin, an einem Gesangbuch für das ganze Land. Natürlich sind die Lieder Martin Luthers und anderer Reformatoren dabei, auch etliche Lieder von Paul Gerhardt, mit dem Crüger befreundet ist. Aber der Kantor hat auch von anderen, noch weniger bekannten Liederdichtern seiner Zeit etliches zusammengetragen. Schon über dreihundert Lieder hat er so gesammelt. Dabei ist er auch auf eine mehrstimmig komponierte Liedsammlung des Martin Rinckardt aus Eilenburg gestoßen. Er blättert in ihr – und bleibt hängen an dem Lied „Nun danket alle Gott…“. „Ach“, sagt er zu sich, „wenn dieser lange Krieg endlich vorbei ist, dann werden wir solche Danklieder aus vollerem Herzen singen können“. Der Text gefällt ihm gut. Kurz und einprägsam ist er, wie gemacht zum raschen Auswendiglernen. Genauso ist es mit der Melodie. „Genial“, murmelt er, so einfach und zugleich so festlich.

Aber dann muss er noch an den Noten arbeiten. Die Melodie setzt er in die Sopranstimme, so wie es auch bei allen anderen Liedern ist. Den mehrstimmigen Chorsatz arbeitet er so um, dass er wohlklingend vierstimmig entsteht. Ob er wohl schon ahnt, dass dieses schlichte Lied bald eines der meistgesungenen werden wird? In seinem Gesangbuch ordnet er – wie es Rinckardt getan hatte – das Lied der Abteilung „Tischlieder für die Familie“ zu. Aber bald weist dieses Lied weit darüber hinaus. Als im Jahr 1648 der sogenannte Westfälische Friede ausgehandelt ist und die Friedensfeste gefeiert werden, da ist Rinckardts Danklied schon kräftig mit dabei. Und so geht es weiter durch die Jahrhunderte. Auch heute noch ist es aus den Festgottesdiensten aller Art, von der Jahreswende zu Konfirmationen, Hochzeiten und anderen Jubiläen nicht mehr wegzudenken.

 

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