Nach dem Einfühlen in die Hauptperson und ihr Erleben kommen wir zu einem weiteren Instrument der Erzählvorbereitung, dem Sehen. Von einem Schulkind stammt die originelle Definition des Erzählens: "Erzählen, das ist wie Kino im Kopf!" Zum Erzählen gehört das Sehen mit dem inneren Auge. Unsere Geschichte wird auch belebt durch Bilder und Szenen, durch konkrete Vorstellungen von den wechselnden Orten der Erzählhandlung. Auch unser Vorstellungsvermögen, unsere innere Sehkraft, will beim Erzählen dabei sein, mitgehen und etwas zu tun haben.

Eine wichtige Aufgabe dieser entstehenden Bilder ist, dass sie den Erzählverlauf strukturieren. Mit jedem neuen Bild tritt auch die Erzählung in ein neues Stadium. Ging es vorher darum, dem roten Faden der Geschichte im Mitgehen mit der Hauptperson eine deutlich fassbare Gestalt zu geben, so verwandeln wir ihn mit den Bildern und Szenen gewissermaßen in eine Perlenkette. Jede Perle ist eine wichtige Station, bei der man ein bisschen verweilen kann. Wichtige Erfahrungen der Geschichte verbinden sich so mit bestimmten Bildern. Mit den Bildern haften dann auch diese Erfahrungen besser im Gedächtnis - das gilt für die Erzählenden genauso wie für die Zuhörenden. Die Kunst des freien Erzählens ist übrigens weithin die Kunst, sich Bild um Bild durch die Geschichte hindurch zu erzählen und dabei aufzunehmen, was man sich vorher für jedes Bild zurecht gelegt hat.

Anregend ist es, das Erzählen einer biblischen Geschichte gemeinsam mit anderen vorzubereiten. Von den Bildern, die beim Hineindenken in eine Geschichte in einem aufsteigen, kann man dann einander erzählen und dabei noch besser die innere Sehkraft üben.

In der biblischen Vorlage finden wir auch hier wieder oft nur knappe Hinweise, um die herum wir unsere Kreise ziehen. In der Geschichte von Bartimäus z.B. heißt es in Mk 10: "da saß ein blinder Bettler am Wege" - ich denke an einen der Hauptwege, die in die Stadt Jericho führen, alle, die aus einer bestimmten Himmelsrichtung in die Stadt kommen, müssen hier vorbei; auf ihm bringen die Bauern ihre Waren auf den Markt, patrouillieren Soldaten; auf ihm ziehen Händler mit ihren Lasttieren in die Stadt; in der Mittagszeit wird es ganz ruhig, aber am Morgen und am Abend geht es lebhaft zu; wenn höher gestellte Personen nach Jericho kommen, wird es auf der Straße besonders lebhaft.

Hin und wieder brauchen wir genauere Auskünfte. In Lk 13 heißt es nur: "Und er (Jesus) lehrte in einer Synagoge am Sabbat. Und siehe, eine Frau war da..." Wo hatte die Frau mit dem verkrümmten Rücken ihren Platz in der Synagoge? Durften Frauen überhaupt in den Hauptraum der Synagoge? Was bedeutet es, wenn Jesus die Frau zu sich nach vorne ruft? - Viel lohnender als sich über einzelne Begriffe den Kopf zu zerbrechen ist es, zunächst solchen Fragen zu den Bildern und Szenen nachzugehen, eigene Vermutungen anzustellen und dann auch gegebenenfalls ganz gezielt Informationen einzuholen.

In einem eigenen Arbeitsgang zählen wir die Bilder auf, die sich bei unserer Geschichte einstellen. Das ist interessanter und abwechslungsreicher, als wenn wir den biblischen Text nach einzelnen Aussagen gliedern. Mit den Bildern und Szenen verbinden sich dann die Aussagen wie von selbst.
Bei der Sturmstillungsgeschichte könnten sich etwa folgende Bilder einstellen: ein freundlicher Sommerabend am See - das aufkommende Unwetter - der losbrechende Sturm - der schlafende Jesus - die Jünger und Jesus im Wortwechsel - die Rettung - die Freude.

Auch hier wieder ist es wichtig, dass wir in den Bildern am Höhepunkt der Geschichte, d.h. den Bildern, die das Rettende, Befreiende, Lebenschaffende tragen, besondere Aufmerksamkeit widmen: In der Geschichte von Zachäus etwa, wie die wandernde Schar um Jesus unerwartet zum Stehen kommt - wie die Menschen innehalten, zu Jesus schauen, mit ihm den Blick auf den Maulbeerbaum richten - wie sich Zachäus entdeckt sieht - welche Kommentare er hören muss - wie völlig unerwartet Jesu freundliche Aufforderung an Zachäus im Raum steht.

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