Erzählen ist wie Kino im Kopf, meinte ein Schüler einmal. Er hat damit auf den Punkt gebracht, worum es bei der Forderung nach Anschaulichkeit in einer Erzählung geht. Beim Erzählen entstehen in den Zuhörenden innere Bilder vom Geschehen – sofern die Erzählung dazu anregt, sofern die Erzählenden selbst ihre inneren Bilder sehen. Wie geht das vor sich? Bei der Erzählvorbereitung kommt es darauf an, das Erzählgeschehen in Szenen zu denken und zu konzipieren, nicht nur in der Aneinanderreihung von Aussagen, Sätzen. Solche Szenen sind wie Räume, in denen sich die Erzählhandlung entfalten kann. Und die wird erzählt,  bis ihr jeweiliges Ziel erreicht ist und der nächste Erzählraum betreten werden kann. Die Hauptperson der Geschichte bewegt sich dann immer in einem konkreten Umfeld, in dem sie Umgebendes mit ihren Augen wahrnimmt. Es genügt jeweils eine Szene in Andeutungen zu skizzieren - das „Kino im Kopf“ kommt bei den Zuhörenden in Gang.

 Das alles gilt für jede Geschichte. Beim Erzählen von Gott achten wir nun besonders darauf, welche Szenenbilder einen guten und tragfähigen Rahmen abgeben für die Botschaft des Glaubens. Ihnen gebührt große Aufmerksamkeit. Im Gleichnis vom verlorenen Schaf war es die Szene auf den Schultern des Hirten mit dem, was das Schaf dort spürte und sah, und mit dem Dialog, der sich dort entwickelte. In der Geschichte von der Kindersegnung ist es sicherlich die Szene, in der die Kinder ganz nah bei Jesus sind. Oft fällt das bildhafte Erzählen an dieser Stelle, in der Schlüsselszene der Geschichte, besonders schwer - vielleicht aus Respekt vor den theologischen Formulierungen in der biblischen Vorlage. Da wird etwa zunächst einfühlsam davon erzählt, wie die Kinder sich darauf freuen, zu Jesus zu kommen. Sie erzählen sich gegenseitig, was sie schon von Jesus wissen. Sie reagieren enttäuscht und erschreckt, als ihre Mütter und sie selbst von den Jüngern zurückgewiesen werden. Dann aber wird nur knapp berichtet, wie Jesus sie nach vorne zu sich ruft. Er segnet sie und sagt ihnen, dass ihnen das Reich Gottes gehöre. Aber das ist doch die Schlüsselszene, die Erzählraum braucht: wie Jesus Zeit für die Kinder hat, wie er sie als Gesprächspartner ernst nimmt, mit ihnen ausführlich redet, sie ganz nah zu sich heranrücken lässt; wie er ihnen sagt, dass sie für Gott mindestens genauso wichtig sind wie die Erwachsenen, dass Gott jeden einzelnen von ihnen kennt und gern hat.
In der Geschichte von Davids Salbung (1.Sam.16) könnte ich mir die Schlüsselszene so vorstellen:

Jetzt tritt er durch die Tür ein, aus dem hellen Licht in die dunkle Wohnstube und muss sich erst mit den Augen daran gewöhnen. Die große Gestalt da, das ist sicher der Prophet. David geht zu ihm hin und der begrüßt ihn freundlich. "Wegen dir bin ich hergekommen, sagt Samuel freundlich. Schön, dass du jetzt da bist. Ich habe eine wichtige Botschaft für dich, eine Botschaft von Gott". David ist ganz aufgeregt, aber er bringt kein Wort heraus. "Komm, lass uns ein paar Schritte gehen", meint der Prophet Samuel. Sie gehen gemeinsam vom Haus weg und David kommt sich sehr bedeutend vor, so als ob er ein bisschen größer ist als vorher. Da bleibt Sa­muel stehen, holt aus seinem Umhang ein Kuhhorn heraus, das an beiden Enden mit Wachs ver­schlossen ist, öffnet es und gießt wohlriechendes Öl in seine Hand. Wie das duftet! Und dann sagt er – und David weiß, dass jedes Wort jetzt ganz wichtig ist: "Gott hat viel mit dir vor. Wenn du groß bist, wirst du dein Volk aus großer Gefahr befreien. Du wirst der Retter deines Volks werden. Gott wird dir die Kraft geben, die du dazu brauchst. Auch wenn du es jetzt noch nicht so recht verstehst, sollst du es schon wissen" Und dann beugt sich Samuel über David und streicht ihm das Öl über die Stirn und über den Nacken. David spürt das Öl auf seiner Haut, und es tut ihm gut. Er fühlt sich erfrischt und gestärkt. "So wie du das Öl spürst, so wirst du Gottes Kraft spüren, wenn du deine Aufgabe zu erfüllen hast.“ – „Aber ich bin doch noch so klein“ sagt David ganz zaghaft. „Dann wirst du groß sein“, antwortet Samuel, „und du wirst genau wissen, was du zu tun hast, und du wirst Großes tun!“

Das Salböl mit seinem Geruch und seiner Wirkung auf der Haut wird zum Symbol für Gottes späteres Wirken in und durch David, wenn die Zeit dafür gekommen sein wird. In der Geschichte von Mose und dem brennenden Dornbusch (Ex 3) wird das Licht und Feuer zum Gleichnis für Gottes Gegenwart. Neugierig hat sich Mose diesem brennenden Gesträuch genähert, das nicht zu verbrennen scheint. Er hört Gottes Stimme in sich und weiß, dass er jetzt Gott ganz nahe ist. Das Feuer steht für Gottes Wirken und das Geheimnisvolle, sofern es mehr und anders ist als jede irdische Wirksamkeit. Diese Nähe, die Mose in dem Feuer spürt, macht ihm auch Angst. Er zieht sich seine Kleidung über das Gesicht, um sich vor dieser Helligkeit zu schützen. Aber mit der gespürten Kraft dieses Feuers verbindet sich Gottes Auftrag und Zusage an Mose: Das geheimnisvolle Feuer unterstreicht als Symbol deren Gültigkeit und Verlässlichkeit.

Die Schlüsselszene in der Sturmstillungsgeschichte (Mk 4) sehe ich dort, wo die verängstigten Jünger den schlafenden Jesus wecken - so wie die aus einem schweren Traum aufgewachten Kinder die Eltern wecken, um von ihnen getröstet und beruhigt zu werden. In den Darstellungen der Malerei zu dieser Geschichte geht es meist um diese Szene. Das äußere Unwetter wird zum Spiegel für den inneren Sturm der Panik und Angst in den Jüngern. Von Jesus geht Ruhe aus, die diesen Sturm besänftigen kann. Die Kraft seiner Zusage steht für das Versprechen von Gottes Begleitung und Schutz inmitten der Not. „Ich bin doch da“, sagt Jesus, „Gott ist doch da bei euch!“ Und der Sturm legt sich. Diese Szene wirkt bis in die Gegenwart der Kinder, und mit Sicherheit weiter als eine eher magische Vorstellung von Jesus, in der er durch seinen Befehl einen tobenden Sturm über dem See Genezareth zum Stillstand bringen kann. 

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