Einführung zu den Heilungsgeschichten

Eine besondere Herausforderung für das Erzählen biblischer Geschichten sind immer wieder die Heilungsgeschichten Jesu. Versteht man sie in einem sehr reduzierten Verständnis lediglich als ein medizinisches Phänomen, dann bleiben sie Geschichten der Vergangenheit, ohne Bezug zur Gegenwart. Denn heute begegnen keine Wunderheiler, die auf solche Weise Menschen von ihren Behinderungen be-freien. Zugang zu diesen Geschichten gewinnen wir vielmehr, indem an den Haupt-personen psychische und soziale Folgen von Krankheit und Behinderung verdeutlicht werden: Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit; eine auf ein Minimum redu-zierte Lebenswelt; das Gefühl, den anderen nur eine Last zu sein; Einsamkeit und Isolation; beeinträchtigtes Selbstwertgefühl. Und genau hier bringt die Begegnung mit Jesus das wegweisend Neue. In eindrücklicher Gestik und Zuwendung wird dieser Zirkel einer immer kleiner werdenden Welt und Lebensfreude durchbrochen. Jesus spricht neuen Lebensmut zu, im Auftrag und in der Autorität Gottes. Er bewirkt Veränderungen, die in der erzählten Heilung vielleicht wohl zunächst eher plakativ erscheinen, aber doch in einem größeren Zeitraum durchaus vorstellbar sind: näm-lich als nach und nach wirksam werdende Folgen dieser Begegnung, dieses Schlüsselerlebnisses.

Die Botschaft dieser neutestamentlichen Heilungsgeschichten lautet dann nicht, in passiver Haltung darauf zu warten, dass durch ein Wunder die Krankheit oder Behin-derung von einem weggenommen wird, sondern sich im Namen Gottes erinnern zu lassen an das Leben, das trotz der belastenden Einschränkungen in einem steckt und das es zu entfalten gilt. Das knüpft an die Sichtweise des christlichen Menschenbilds an, wonach jeder Mensch seine unantastbare Würde hat und sein Recht auf Leben. Das Wunderbare dieser Geschichten ist dann keineswegs auf einen me-dizinischen Vorgang reduziert, sondern benennt die Veränderung in der Sichtweise des eigenen Lebens, den neuen Aufbruch, neue Lebensfreude, die dann wohl auch auf das Krankheitsbild Einfluss zu nehmen vermag. In diesem Sinne können biblische Wundergeschichten auch heilsame Geschichten in der heutigen Zeit sein, in-dem sie einen Perspektivenwechsel vollziehen hin zu Lebensmut und Aktivität.

Das neue Leben, das Jesus im Auftrag Gottes schenkt, ist Zeichen des anbrechenden Reiches Gottes, das Jesus verkündet hat. Jesu Heilungstaten sind Wegweiser auf Kommendes hin. So wunderbar die einzelnen heilenden Taten Gottes in Jesu Wirken sind, auf so wunderbare Weise wird Gott künftig Kräfte des Lebens gegen die des Todes zur Geltung zu bringen. Wundergeschichten sind deshalb Hoffnungsgeschichten, die der scheinbaren Endgültigkeit von Beeinträchtigungen und Begrenzungen des menschlichen Lebens entgegenstehen. Sie öffnen neue Perspektiven und wecken Erwartungen. Inmitten andersartiger Realität wächst die Hoffnung, dass in ihr Neues geschehen kann und wird.

Kleinere Kinder, etwa bis ins Grundschulalter hinein, trennen noch nicht so scharf wie ältere zwischen Realität und Phantasie und nehmen deshalb kaum Anstoß an der Wunderhaftigkeit des Geschehens. In den folgenden Jahren stehen die konkreten Operationen (Piaget) im Vordergrund. Wie passen diese Geschichten der Bibel zu dem Bemühen, das Geschehen in unserer Realität nach den Gesetzmäßigkeiten von Ursache und Wirkung zu ordnen und zu verstehen? Hier wird es vor allem darauf ankommen, die sozialen Bezüge und deren Veränderung zu thematisieren. In der Begegnung mit Jesus verändert sich die Sicht der Wirklichkeit, wird Selbstbewusstsein gestärkt, neues Vertrauen gestiftet. So kann dem Neuwerden in der Vielfalt seiner Aspekte nachgegangen werden.
 

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