Martin Luther und die Musik –
Wie die ersten Gesangbuchliederlieder entstanden

Vorüberlegungen

Gegen Ende des Jahres 1523 bzw. Anfang 1524 begann der ‚Liederfrühling‘ der Reformation. Nach den Jahren der reformatorischen Flugschriften mit Texten und bebildernden Holzschnitten entstanden nun die ersten Liedblätter und mit ihnen die Anfänge des evangelischen Gesangbuchs. Davon erzählt diese Geschichte.

Martin Luther war hochmusikalisch. In überlieferten Aussagen spricht er von seiner Liebe zur Musik, zum Beispiel in einer seiner Tischreden: „Ich gebe nach der Theologie der Musica den nähesten Ort und höchste Ehre“. Er ist überzeugt, dass das Evangelium auch durch die Musik gepredigt wird. So gesehen verwundert es etwas, dass er erst sechs Jahre nach seinem Thesenanschlag zum Liederdichter in Texten und Melodien geworden ist. Auslöser dazu war der Märtyrertod zweier Augustinermönche in Brüssel, die sich für den reformatorischen Glauben eingesetzt hatten. Sein Entsetzen trieb ihn zu einem Lied, in dem er seinen inneren Aufruhr in Verse bannte. Das führte ihn weiter zu seinem eigenen Glaubenslied „Nun freut euch lieben Christen g’mein“ (Ev Gesangbuch 341) und weiter zu dem ambitionierten Programm, am neu gestalteten evangelischen Gottesdienst in deutscher Sprache auch die Gemeinde mit dem Singen von Liedern zu beteiligen.

Der Aufforderung an fähige Liederdichter, daran mitzuwirken, folgte auch Elisabeth von Meseritz aus Pommern, die mit ihrem Lied „Herr Christ, der einig Gottessohn“ (Ev Gesangbuch 67) großen Anklang fand. Die Geschichte erzählt auch von ihr als der ersten Liederdichterin der Reformation. Sie heiratete noch im selben Jahr 1524 Caspar Cruziger, der wenige Jahre später Theologieprofessor in Wittenberg und auch einer der wichtigsten Mitarbeiter Luthers wurde.

Und noch eine Person sollte in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden: der damals noch junge Johann Walter, Basssänger und Komponist der kursächsischen Hofkapelle in Torgau. Er wird zum wichtigsten musikalischen Mitarbeiter und engen Freund Martin Luthers und mit seinen Liedkompositionen zum ‚Urkantor‘ der evangelischen Kirchenmusik. Charakteristisch für seine Vertonungen ist die Melodieführung im Tenor, die dann von der tiefen Stimme (Bass), der hohen Stimme (Alt) und einer kontrastierend ganz hohen (Sopran) umspielt wird. Seine sprachliche und theologische Kompetenz wird in von ihm selbst gedichteten und vertonten Liedern, so auch in einer seiner letzten Kompositionen, deutlich:

                                   Allein auf Gottes Wort will ich mein Grund und Glauben bauen.
                                   Das soll mein Schatz sein ewiglich, dem ich allein will trauen.
                                   Auch menschlich Weisheit will ich nicht dem göttlich Wort vergleichen,
                                   was Gottes Wort klar spricht und richt‘, dem soll doch alles weichen.

>> Dazu das Musikbeispiel Nr. 6: Allein auf Gottes Wort...

Wie in den früheren Reformationserzählungen sind auch in dieser die vielen historisch gesicherten Details in erdachten Erzählszenen und Dialogen veranschaulicht und gebündelt.

Zu einer Erzählung zu Liedern und Musik gehören natürlich auch Tonbeispiele. Aus urheberrechtlichen Gründen muss auf die Übernahme vorliegender Musikproduktionen verzichtet werden. Ein Ersatz dafür sind Aufnahmen des Posaunenchors in Berg/Oberbayern aus einem Gottesdienst, der den „frühen Liedern der Reformation“ gewidmet war – mit Liedvertonungen aus unserer Zeit zu den in der Erzählung benannten Gesangbuchliedern, wobei auch in ihnen die Melodie oft zwischen den anderen Stimmen ‚versteckt‘ ist. Johann Walters Vertonungen werden an zwei Beispielen vorgestellt. Bei diesen Musikaufnahmen mögen bitte akustische und bläserische Schwächen freundlicherweise überhört werden.
 

 

Erzählung – Teil 1: Von einem Nachrichtenlied zu Luthers persönlichem Glaubenslied

Es ist einer der Frühlingstage in Wittenberg im Jahr 1524. Die Sonnenstrahlen wärmen wieder angenehm. Die Leute kommen gerne aus ihren Häusern und freuen sich darüber, dass der Winter nun bald endgültig vorbei ist. Martin Luther ist unterwegs von seiner kleinen Wohnung im ehemaligen Augustinerkloster zum Pfarrhaus der Stadtkirche. Gerade trifft er auf seinen Kollegen und Freund Justus Jonas. Der hat dasselbe Ziel, nämlich eine Besprechung, zu der auch die anderen Reformatorenfreunde erwartet werden. Mitten im Gespräch der beiden bleibt Martin plötzlich stehen und horcht. „Da singt doch jemand dort vorne auf dem Marktplatz“. Auch Justus horcht und meint: „Das ist bestimmt wieder einer von den Nachrichtensängern“. Mit lauter Stimme singt der seine neuesten Nachrichten als ein Lied. Die Leute kommen dazu, und wer die Nachricht auch noch einmal selbst lesen will, kann sie als Liedblatt kaufen. Justus meint noch: „Ich finde, das ist eine gute Idee mit den Nachrichtenliedern. Die kann man sich viel besser merken als wenn jemand bloß einen Text vorliest. Und wer will, kann die Nachricht sogar auch noch seinen Freunden vorsingen“. Als der Sänger sein Lied schon beendet hat, summt Martin die Melodie dieses Zeitungslieds weiter vor sich hin. Die Nachricht selbst haben die beiden nicht verstanden, aber die Melodie schon. Justus meint: „Du bist doch unser Musicus. Wie ich dich kenne, hast du die Melodie auch morgen noch um Kopf, und dann singst du sie uns zum Spiel auf deiner Laute und mit einem neuen Text von dir selbst vor!“

Solange muss Justus gar nicht warten. Kurz darauf sitzen sie im Pfarrhaus beisammen, mit Philipp Melanchthon, Nikolaus von Amsdorff, Johannes Bugenhagen, der seit einem Jahr als Stadtpfarrer zugleich hier Hausherr ist. Walburga, seine Frau hat sie alle mit einem kleinen Imbiss begrüßt. Martin nimmt die Laute, die er im Zimmer liegen sieht und singt zu der vorher gehörten Melodie ein kleines Frühlingslied, das er sich gerade ausgedacht hat. Die anderen klatschen Beifall und Philipp Melanchthon fragt: „Martinus, woher hast du eigentlich deine großartige musikalische Begabung?“ Der erzählt ein bisschen davon, wie er schon als Schulkind mit seiner hellen, klaren Stimme anderen Freude machen konnte. In Eisenach sind die Schüler damals an den Feiertragen von Haus zu Haus gezogen, sangen und freuten sich, wenn sie zum Dank etwas geschenkt bekommen haben. Martin wurde sogar wegen seiner schönen Stimme in die Familie Cotta und Schalbe aufgenommen und konnte dort wohnen. „Und wie kamst du zu dem Lautenspiel?“ fragt einer. „Das habe ich mir selbst beigebracht“, antwortet Martin. „Ich hatte doch in Erfurt als Student einen schweren Unfall. Bis das Bein wieder verheilt war, hatte ich viel Zeit zum Musizieren und Üben. Und zum Studium hat auch die Lehre von der Musik gehört. Die habe ich begierig wie ein Schwamm aufgesogen und konnte sie dann auf der Laute ausprobieren. Die anderen staunen. „Die Musik ist ein großartiges Gottesgeschenk“, erzählt Martin weiter. „Wenn ich mutlos war und verzweifelt, dass es mit der Heilung nicht so recht voranging, dann waren die Klänge wie eine Medizin für mich, die mich gestärkt haben. Und so ist es auch heute noch. Neben der Theologie ist die Musik das Wichtigste für mich“. Theologie – das ist dann das Stichwort für alle. Es gibt etliches zum Reformationsgeschehen in Wittenberg und darüber hinaus im ganzen Land zu bereden.

Die Besprechung ist fast schon zu Ende, da wird ein Bote vom kurfürstlichen Schloss in Torgau hereingeleitet. Er hat eine Nachricht von Georg Spalatin. Der ist der Sekretär des Kurfürsten und zählt auch zu den Freunden Luthers. Es ist eine traurige Nachricht: In Brüssel hatte sich ein Augustinerkloster der Reformation zugewendet. Das aber wurde von der kirchlichen Obrigkeit sofort verboten. Zwei junge Mönche, die standhaft an ihrer Treue zum neuen Glauben festhielten, wurden zum Tod verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Entsetzen liegt auf den Gesichtern der Reformatorenfreunde im Wittenberger Pfarrhaus. Sie sind bei der Nachricht aufgesprungen und stehen nun schweigend da. Nach einer Weile sagt Nikolaus: „Wir dürfen nicht vergessen, dass die Reformation eine sehr gefährliche Sache sein kann, eine Sache auf Leben und Tod“. Er wendet sich Martin zu und spricht weiter: „Auf unserer gemeinsamen Fahrt zum Reichstag in Worms, da hattest du auch den Tod vor Augen, so wie ihn früher der Reformator Jan Hus erleiden musste. Das wäre wohl das Ende der Reformation für uns alle gewesen. Aber wir dürfen leben und die frohe Botschaft der Bibel weiter verkünden. Dabei werden wir diejenigen nicht vergessen, die für diesen Glauben ihr Leben hingeben musssten“.

In der folgenden Nacht kann Martin nicht einschlafen. Die Nachricht vom Tod der beiden Mönche lässt ihn nicht los. Auch er ist ja Augustinermönch. Er hat die reformatorische Botschaft unter die Leute gebracht. „Habe ich etwas falsch gemacht?“ fragt er sich immer wieder. „Aber die gute Nachricht des Evangeliums muss doch verkündigt werden!“ In seiner Traurigkeit holt er seine Laute, fängt an zu spielen und zu singen. Er singt ein Lied von den beiden Mönchen mit einer Melodie, die ihm gerade in den Sinn kommt. Er singt von ihrem Glaubensmut und von ihrer Treue zum Evangelium. Er singt davon, was ihnen an diesem Evangelium so wichtig war. Es wird ein langes Lied über die beiden und ihren Glauben. Nach und nach wird ihm wieder wohler ums Herz. Dann setzt er sich an seinen Tisch und schreibt alles noch einmal auf, die Noten der Melodie und die Erzählverse. Er schreibt sein erstes Nachrichtenlied. „So will ich vom Tod der beiden erzählen“, murmelt er vor sich hin, „so will ich die Erinnerung an sie bewahren!“ Bald darauf singt er dieses Lied im Kreis der Freunde, vor seinen Studenten, vor der Kirche, als am Sonntag nach dem Gottesdienst die Menschen noch beieinander stehen. Das Lied wird gedruckt, so dass es auch andere singen können und so die traurige Geschichte von den beiden Mönchen weitertragen.

Nach ein paar Tagen sitzen die Freunde und Mitarbeiter Luthers wieder beieinander, singen zuerst noch einmal gemeinsam das Nachrichtenlied und beten für die Mönche in Brüssel. Johannes Bugenhagen meint dann noch: „Martinus, in diesem Lied hast du auch etwas von dir selbst erzählt. Auch dir ist dieser Glaube das Wichtigste in deinem Leben geworden“. Martin antwortet: „Das ging mir in den letzten Tagen auch immer wieder durch den Kopf. Wir alle sind doch Verkünder der neuen Botschaft. Ich bin auch so etwas wie die Nachrichtensänger, die ihre Botschaften unter die Leute bringen. Deshalb habe ich noch ein anderes Nachrichtenlied verfasst, das von mir selbst und meinem Glauben, von meiner Entdeckung des Evangeliums erzählt“. Er nimmt wieder die Laute zur Hand, singt und spielt den Freunden sein Glaubenslied vor. Die Freunde sind begeistert. Justus Jonas meint: „Jahrelang hat unser Martin seine Flugschriften verfasst, von den 95 Thesen angefangen bis zu den mahnenden Schriften an die Fürsten und Stadträte. Jetzt kommen endlich die Verse zum Singen dazu.Das kann doch wie ein wunderbares Geländer, wie ein Fahrzeug für die bloßen Worte sein. So können die viel besser zu Herzen gehen“.
Martin nickt und sagt: „Das wurde mir auch klar. Die Melodie, die ich gerade gesungen habe, die haben ich von einem anderen Lied übernommen. Inzwischen aber habe ich diese Melodie durch eine neue, nämlich von mir selbst erfundene, ersetzt. Sie soll wie eine Überschrift für das ganze Lied sein: „Nun freut euch, liebe Christen!“ Schon in der Melodie selbst soll man spüren können, worum es im Text geht“. Er nimmt wieder die Laute zur Hand und singt die erste Strophe nach seiner eigenen Melodie.

>> Dazu das Musikbeispiel Nr. 1: Nun freut euch, lieben Christen g’mein…

Philipp meint: Die Freude habe ich in deiner neuen Melodie viel besser spüren können als vorher, nämlich in den Sprüngen, welche die Töne am Anfang machen“. Nikolaus ergänzt: „Und wo es um Gottes Wundertat geht, da steigt die Melodie hinauf zu ihrem höchsten Punkt, als Zeichen dafür, wie wertvoll ist für uns ist“. Johannes ergänzt noch: „Und zum Schluss senkt sich die Melodie wieder herab, so wie Gottes Geschenk zu uns Menschen kommt - in dem, was Jesus uns gebracht hat“. Und dann meint er noch: „In deinem Glaubenslied, lieber Martinus, ist das Wichtigste zusammengefasst, worum es im Glauben geht. Das kann man nicht oft genug singen. Und deine neue Melodie trägt viel dazu bei“.
 

Erzählung – Teil 2: Auf dem Weg zum ersten Gesangbuch

Die Sache mit den Liedern geht Martin Luther nicht mehr aus dem Kopf. Bald danach trifft er sich mit seinem Freund Georg Spalatin im kurfürstlichen Schloss. Er will mit ihm über Änderungen in den Gottesdiensten sprechen. Alle Neuregelungen, auch die bei den Gottesdiensten, müssen von Kurfürst Friedrich genehmigt werden. Und weil Spalatin am besten mit ihm reden kann, will Martin die Änderungen, die er vorhat, zuerst mit Georg besprechen. „Die Übersetzungen der lateinischen Texte im Gottesdienst in die deutsche Sprache sind ja alle gut gelungen“, meint Georg. Martin nickt. „Der Sprechgesang ist derselbe geblieben, eben nur mit Worten, die die Leute auch gut verstehen können. Aber die Gemeinde hört dabei nur zu. Wenn es uns gelingt, diese Texte in Lieder zu verwandeln, dann könnten alle mitsingen. Bei meinem Lied habe ich zuerst noch gar nicht an den Gottesdienst gedacht. Aber dann ist mir ein Licht aufgegangen. Als Glaubenslied passt es auch dort gut dazu“. Georg ist der gleichen Meinung. „Natürlich, aber am besten wäre es jetzt, wenn wir möglichst bald eine ganze Reihe solcher Glaubenslieder hätten. Im Singen lernen die Leute, sich den Inhalt gut anzueignen und ihn in sich aufzunehmen“.

Martin redet gleich weiter. „Paul Speratus hat auch schon solch ein Glaubenslied gedichtet („Es ist das Heil uns kommen her…“, Evang. Gesangbuch 342) und vielleicht finden wir noch andere, die gute Ideen dazu haben. Wir brauchen außerdem Lieder, die genau zum Ablauf des Gottesdienstes passen: Lieder zum Beginn und zum Schluss, also Segenslieder, Lieder zur Taufe und zum Abendmahl, Lieder zu den Festen von Advent und Weihnachten bis zu Ostern und Pfingsten“. Georg sagt: „Das sind ja große Pläne“. Martin redet weiter: „Mit meinen Studenten arbeite ich gerade an den Psalmen des Alten Testaments. Die Psalmen sind ja das Liederbuch in der Bibel. Weil wir die Melodien von damals nicht mehr kennen, sollten wir die alten Texte in die Reimform bringen und neue Melodien dazu finden. Ich habe da schon einige Ideen“.

„Lass hören“ fragt Georg neugierig. Und Martin nimmt die Aufforderung gerne an. „Ich denke da etwa an den Psalm 46. Er singt von einer sicheren, festen Stadt, in der alle Bewohner vor Gefahren sicher sind und vergleicht diese Stadt mit Gott. Vor meinen Augen sehe ich da eine Burg mit schützenden Mauern. Vielleicht kann ich ein Lied schreiben, das Gott als solch eine Burg besingt („Ein feste Burg ist unser Gott“, Ev. Gesangbuch 362). Oder ich denke an den Psalm 130. Er beginnt mit einem Klagelied, das aus der Tiefe der erlebten Not zu Gott hin gerichtet wird: ‚Aus der Tiefe rufe ich, Gott, zu dir!‘ Wir brauchen auch Lieder, die man in seiner Not zu Gott singen kann und es einem damit leichter ums Herz wird. Das könnte so beginnen: ‚Aus tiefer Not schrei ich zu dir!‘ (Ev. Gesangbuch 299). Ach, es gibt so viele Psalmen, aus denen Gebetslieder werden können“. „Und wer soll diese Lieder alle dichten?“ fragt Georg weiter. Martin erwidert: „Ich bitte dich um deine Hilfe, dass wir viele Liedermacher finden, die dabei mithelfen, dass eine ganze Sammlung von Liedern entsteht. Aus ihnen könnte dann sogar ein Buch werden, ein Gesangbuch“.

Georg antwortet: „Ich will dich gerne dabei unterstützen. Zuerst werde ich jetzt dem Kurfürst berichten und auch ihm deinen Plan schmackhaft machen“. „Sag ihm bitte noch“, ergänzt Martin, „dass es in unserem neuen evangelischen Gottesdienst um unser gemeinsames Gespräch mit Gott gehen soll. Gott spricht zu uns durch sein Wort in der Bibel und auch durch die Predigt über diese Worte. Und die ganze Gemeinde antwortet darauf mit ihren Liedern zum Lobe Gottes und mit den gesprochenen und gesungenen Gebeten“. „Das wird dem Kurfürst sicher gut gefallen“, antwortet Georg. „Ich zumindest freue mich schon auf die singende Gemeinde. Sie wird dem neuen evangelischen Gottesdienst einen besonderen Glanz verleihen“.

 

An einem der folgenden Sonntage stehen viele Gottesdienstbesucher anschließend noch vor der Wittenberger Stadtkirche beisammen und mittendrin steht Elisabeth von Meseritz. Heute hat die ganze Gemeinde nämlich ihr Glaubenslied gesungen „Herr Christ, der einig Gottessohn“ (Ev. Gesangbuch 67).

>> Dazu das Musikbeispiel Nr. 2: Herr Christ, der einig Gottes Sohn

 

Stadtpfarrer Johannes Bugenhagen stellt sie den anderen vor: „Viele von euch kennen ja Elisabeth schon. Ich kenne sie schon seit vielen Jahren. Als ich als Lehrer in Treptow in Pommern Kinder und auch Erwachsene über die Bibel unterrichtet habe, wurde ich auch ins nahe gelegene Frauenkloster Marienbusch eingeladen. Dort habe ich Elisabeth kennengelernt. Sie hat sich mit großem Eifer mit der Bibel beschäftigt, hatte damals schon große Freude an Gedichten und auch selbst Gedichte verfasst. Als ich mich dann vor drei Jahren auf den Weg nach Wittenberg machte, um bei Martin Luther Theologie zu studieren, da hat bald danach Elisabeth ihre Kloster verlassen, um auch nach Wittenberg zu kommen. Für unseren großen Liederplan hat sie ihr Glaubenslied geschrieben“. Die Leute nicken Elisabeth freundlich zu. Eine Frau meint: „Jesus Christus als leuchtender Morgenstern – dieses anschauliche Bild in Eurem Lied hat mir so sehr gefallen“. Eine andere ergänzt: „Dass Jesus Christus Gott so nahe ist wie aus seinem Herzen geboren, das spricht mich an. Wenn ich das so singe, dann denke ich daran, dass Gott die Liebe ist und Jesus das Licht, das diese Liebe zu uns gebracht hat“. Eine weitere Person ergänzt: „Und dass Glauben für uns bedeutet, in dieser Liebe zu leben und sie auch an andere weiterzugeben, das ist für mich ganz wichtig“.

Elisabeth freut sich sehr über diese Bemerkungen. Johannes Bugenhagen erzählt noch: „Ich verrate euch jetzt noch ein kleines Geheimnis. Elisabeth hat mir Folgendes erzählt. Sie hat einmal geträumt, dass sie auf der Kanzel unserer Kirche stand und gepredigt hat und dann beim Aufwachen traurig war, dass sie das als Frau nicht darf“. Elisabeth schaut ganz verlegen, aber Johannes spricht weiter: „Mit ihrem Lied hat sie uns heute eine Predigt gehalten, die wir uns auch selbst immer wieder mit unserem Singen halten können“. „Warum sollten eigentlich nicht auch Frauen predigen können?“ fragt eine andere Frau. „Die Reformation ist doch nicht nur Männersache“. Etliche in der Runde wiegen bedenklich die Köpfe. Dieser letzte Satz war doch sehr ungewöhnlich für sie. Lange Zeit wird Elisabeth auch die einzige Frau unter den Liedermachern der Reformation bleiben. Aber ihr Lied wird vielen Menschen zum Lieblingslied werden.
 

Erzählung – Teil 3: Liedmelodien werden zu Klängen

Bald darauf hat Martin Luther wieder ein Gespräch mit Georg Spalatin im kurfürstlichen Schloss in Torgau. „Kommt ihr mit euren Liedern gut voran?“ fragt der. Martin antwortet zufrieden: „Einige Lieder sind schon beisammen, nicht nur von mir, sondern auch von anderen. Daraus kann ein erstes Gesangbüchlein werden“. Nach einer kleinen Pause fährt er fort: „Aber ich habe noch ein anderes Problem. Die Leute sind es noch nicht gewohnt, im Gottesdienst die Lieder selbst zu singen. Viele können sich auch die Melodien nicht merken, auch nicht die Texte. Man müsste ihnen die Lieder erst einmal so richtig schmackhaft machen“. Georg antwortet: „Dazu könnte uns unser Hofmusikus Johann Walter helfen. Der hat sich auch schon viele Gedanken zu unserem Liedprogramm gemacht. Komm, wir machen gleich mal einen Besuch bei ihm“.

Sie finden ihn in einem Musikzimmer des Schlosses, aufmerksam über Notenblätter gebeugt. Georg stellt ihn Martin vor: „Johann Walter ist 28 Jahre jung, Sänger der tiefen Bassstimme in der Hofkapelle und auch Komponist“. Johann freut sich sehr über Martin Luthers Besuch, fast so, als ob er ihn schon sehnlichst erwartet hätte. Nachdem Martin ihm seine Liedpläne für den Gottesdienst vorgestellt hat, antwortet Johann: „Sehr gerne bin ich bereit, als Musiker meinen Beitrag zu leisten. Das tue ich auch deswegen, weil ich bei Euch, Doktor Martinus, so viel Liebe für die Musik und die Lieder spüre. Dass Ihr die Musik genauso hoch achtet wie die Theologie, das ist eine große Ehre für mich und mein Leben für die Musik. Ich habe für das Liedersingen in den Gottesdiensten auch einige Vorschläge. Als erstes müssten der Gemeinde die neuen Lieder so oft wie nötig vorgesungen werden, damit sie den Menschen ins Ohr gehen. Das wird eine Aufgabe für die Lehrer in den Schulen sein. Sie sollten die neuen Lieder zuerst mit den Kindern einüben, sie dann in den Gottesdiensten singen und so der Gemeinde bekannt machen. Dazu verfasse ich gerne die nötigen Anleitungen für die Lehrer. Ich denke aber auch an die mehrstimmige Musik, die bisher zu den lateinischen Texten entstanden ist und die wir auch in unserer Hofkapelle singen. Ich bin gerne bereit, solche Musik zu den neuen Liedern zu komponieren. Das ist dann klangvolle Musik, von geübten Sängern vorgetragen, eine Musik, die das Herz erfreut und zugleich neugierig macht auf die Liedmelodien, die in ihr stecken“.

Martin ist von diesen Vorschlägen begeistert. Er sieht schon vor seinem inneren Auge und hört in seinem inneren Ohr, wie zum einen die Schulchöre einstimmig aus dem Gesangbuch die Melodien vorsingen und wie auch geübte Chöre aus einem Chorbuch diese Melodien in einem mehrstimmigen Chorgesang entfalten. Während er noch in Gedanken diesen Bildern und Klängen nachhängt, zupft ihn Johann Walter am Ärmel und sagt: „Kommt doch gleich mit zur Chorprobe unserer Hofkapelle, die jetzt beginnt. Zu Eurem Lied „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ (Ev. Gesangbuch 124) habe ich vor Kurzem schon solch ein Chorstück komponiert. Hört es Euch an, damit Ihr einen Eindruck von meiner Idee bekommt. Das lässt sich Martin nicht zweimal sagen, und so hört er gleich darauf bei den Sängern, wie sie auf ihre kunstvolle Weise sein Lied zu Klängen werden lassen.

>> Dazu die Musikbeispiele 3+5 zur Begleitung in heutzutage üblicher Weise
                                               4 im Chorsatz von Johann Walter
                                                

Ja, so kann sich auch Martin Luther gut vorstellen, wie die Musik in Liedern und neuen Kompositionen ihren Einzug in den evangelischen Gottesdienst halten kann. Martin erreicht auch, dass Johann Walter für einige Wochen mit ihm nach Wittenberg reisen darf, um dort in Ruhe an dem entstehenden Chorbuch zu arbeiten. So oft es nur geht, besucht Martin seinen neuen Freund Johann bei dessen Arbeit – Martin, der Theologe, der auch viel von der Musik versteht und Johann, der Musiker, der sich auch ausgiebig mit der neuen reformatorischen Glaubenslehre beschäftigt. Und so kann noch im selben Jahr mit dem Entstehen des ersten Gesangbüchleins auch schon das erste Chorbuch von Johann Walter gedruckt werden.
Als die beiden dann diese zwei Bücher im Kreis der Freunde herumreichen und feiern, da meint Johann noch zu Martin: „Aber eines verstehe ich noch nicht, lieber Martin. Du bist ein so begeisterter Sänger und Musiker, bringst neue Lieder und Melodien hervor, kannst sogar selbst mehrstimmig komponieren. Warum hast du erst sieben Jahre nach dem Anheften deiner 95 Thesen an der Wittenberger Schlosskirche die Welt der Lieder für die Verkündigung des Glaubens entdeckt?“ Martin lächelt und meint dann nur: „Oft dauert das Nächstliegende am längsten. Aber mit unserer freundschaftlichen Zusammenarbeit kann es ab jetzt wunderbare Früchte bringen“.

 

Literaturhinweise
Martin Rößler: Liedermacher im Gesangbuch. Liedgeschichte in Lebensbildern. Calwer Verlag, Stuttgart 2001.
Martin Geck: Luthers Lieder. Leuchttürme der Reformation. Olms Verlag, Hildesheim u.a. 2017
 

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